zehn / Schichten. Und Geschichten.

10:30 Bordzeit

Wie ein senkrechter Strich zieht unser Kurs auf den Bordmonitoren in Richtung Süden. Breitengrad für Breitengrad klettern wir abwärts. Pfeilgerade laufen wir auf den Sturm zu. Die Nacht war: Rollen. Schaukeln. Stampfen. Sinken und Steigen. Die Wellen schäumen. Wind? Sechs bis sechseinhalb, murmelt der Wettertechniker. Das wird noch mehr. Es bläst jetzt schon ganz ordentlich. Über das Arbeitsdeck rollt ab und zu eine Woge, leckt nasse Streifen auf das bleiche Decksholz. Manche Wellen laufen parallel zum Schiff, ein, zwei Meter höher als die Bordwand, da kann einem schon mulmig werden. Die Sonne scheint.

Nachdem wir die Wetterbilder des Tages gedreht haben, spielen wir Kreuzfahrt. Liegen auf Liegestühlen auf der windabgewandten Seite, Mütze, dicke Weste, Sonnenbrille, Buch. Die Reling steigt hoch vor unseren Augen, bis auf 15, 20 Grad geneigt, dann fällt sie langsam nach vorne. Und das Heck steigt aus dem Wasser. Hoch … Tief … Hoch … Sanfte, kräftige Schaukelbewegungen. Keine Spur von seekrank, der Ingwer bleibt im Tütchen. Vorerst.

So weit die Zeit – der wogende Pazifik

Gischt sprüht weiße Nebel über uns, Aerosole voller Nährstoffe, von den Rettungsbooten tropft es. Eben bin ich an Deck eine Treppe runtergeschwankt, beide Hände an den Geländern, und unten waren meine Hände weiß – weiß und von Kristallen bedeckt. So salzgeschwängert ist die Luft hier.

Das Meer und wir, kosmisches Schaukeln. Wir sind ganz Gegenwart.

Salznebel legen sich tropfenweise über Seite 123. Kleine Kristalle trocknen über der Geschichte des Triesters Josef Mazzini, der eines Tages im Sommer 1981 von Wien aus nach Spitzbergen aufbricht, auf der Spur der österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition von 1873.  Auf Seite 127 besteigt Josef Mazzini in Longyearbyen das Foschungsschiff Cradle, um ins Eismeer zu gelangen. Wo sich seine Spur verliert

Christoph Ransmayr hat das geschrieben: Die Schrecken des Eises und der Finsternis, Wien 1984. Was für ein Buch! Eine fein vernähte, verschachtelte Geschichte über das Reisen und die inneren Reisen und die Weitläufigkeit der Zeit. Allein der Anfang:

„Josef Mazzini reiste oft allein und viel zu Fuß. Im Gehen wurde ihm die Welt nicht kleiner, sondern immer größer, so groß, dass er schließlich in ihr verschwand.“

Wenn ich hier jetzt sitzen bleiben würde, im Salznebel, sagen wir hundert, nein, besser tausend Jahre, das Buch auf dem Schoß und die Sonnenbrille auf der Nase, von Kristallen bedeckt, eingesalzen und ausgetrocknet, ein weißes Fossil, sanft ins Sediment gebettet. Dann würde dieses Fossil späteren Klimaforschern zum Beleg dafür dienen, dass hier dereinst ein durchweg mildes Klima geherrscht haben muss. Den Anthropologen zum Beweis dafür, dass die Eingeborenen der Südsee bei aller sonstigen Primitivität eine erstaunliche Fingerfertigkeit im Anfertigen von Augengestellen gehabt haben müssen. Handelsbeziehungen mit Neuseeland und mit Nordeuropa würden die Wirtschaftshistoriker herausarbeiten, ein ganz neuer Ansatz in der Wirtschaftsgeographie.

Und Christoph Ransmayrs Buch, das selbst schon schichtweise Geschichten freilegt aus den Sedimenten der vergessenen östereichisch-ungarischen Nordpolexpedition, es würde auch, gut eingesalzen, zu einer Schicht im Sediment der Erinnerung werden. Meiner Erinnerung. So wie ich mit meinen Geschichten.

Und was machen die Geophysiker auf dieser Reise? Schießen mit Air-Guns in den Ozean, um ein Echo der Vergangenheit zu bekommen. Um die Schichten unter dem Meeresboden, im Sediment und noch darunter, sehen zu können. Und um dann die Geschichte der Erde, die Klimageschichte der vergangenen Erdzeitalter, daraus zu lesen.

Die Erdhistorie: eine Folge von Schichten, in denen Geschichte lagert. Man muss sie bloß finden, die Schichten. Und die Geschichte lesen können.

Der Wind wird stärker.

Wind. Weite. Wind.