Stuttgart Hauptbahnhof, ein heißer Frühlingstag. Alle schwitzen, alle schieben, die Bahnsteige rappelvoll, Genervtheit liegt in der Luft. Die Ansagen scheppern unverständlich, der RE in Richtung Krxxxxssss fährt heute ausnahmsweise von Gleis Krccassddvvpffff. Kopfschütteln am Bahnsteig.
Im Regionalexpress: fast alle Sitzplätze besetzt. Unklimatisiert, natürlich. Abfahrt war vor acht Minuten. Keine Ansage. Türen auf, Türen zu. Einige murren, die meisten streicheln ihre Smartphones. Ein Mann in Shorts mit XXL-Sonnenbrille steigt ein, sieht sich um, steigt wieder aus, sieht sich auf dem Bahnsteig um. Rein, raus, raus, rein. Jedesmal seufzt die Tür – ihr Alarmton schneidet durch die stickige Luft.
Laute Männerstimmen aus dem Obergeschoss steigern sich zu Wutgebrüll. Ein ledriger Mann im Sportdress stürmt den Gang entlang, das Gesicht zur Faust geballt. Zerrt am Schloss seines Rennrades. Dann schdeige ich jetzt aus, schnaubt er. Reißt das Fahrrad herum in einer schnellen, cholerischen Bewegung, dass sich alle, die da sitzen, ducken müssen, um nicht das Vorderrad abzukriegen. Unter der Last des Fahrrades auf seiner Schulter schwankt er durch den Gang.
Das Wutgebrüll kommt näher, ein Mittfünfziger im rosa Hemd schreit den Schaffner an. Je-den-tag-das-gleiche-je-den-tag-kei-ne-an-sagen-mei-ne-le-bens-zeit! Der Schaffner röhrt zurück. Der Mittfünfziger findet keinen Ausweg mehr, verliert sich in schwäbischer Rechthaberei. Der Fahrradfahrer steht dazwischen, kommt nicht mehr voran, schmeißt sein Rad in die Ecke. Auftritt XXL-Sonnenbrille, der gerade wieder den Wagen betreten will. Brüllt das rosa Hemd an, was ihm einfalle, der Schaffner könne ja auch nichts dafür. Rosa Hemd: Das-ist-mir-scheiß-e-gal-mei-ne-le-bens-zeit! Sich steigerndes Brüllduell am Einstieg. Die Sonnenbrille spuckt das rosa Hemd an.
Dann dieselt die Lok los, die Türen schrillen ein letztes Mal. Sonnenbrille verzichtet auf die Mitfahrt, das rosa Hemd schwankt zwischen Opferrolle (der hat mich an-ge-schpuggd!) und Wutgeheul (ei-ne-hal-be-schtun-de-je-den-tag!).
Das Bürgertum verliert die Fassung. Die Nerven liegen blank. Irgendetwas an diesem Leben ist so unaushaltbar geworden, dass beim kleinsten Anlass alles explodiert. Kompletter Kontrollverlust, keine Hemmungen mehr. Sehr beängstigend.
Einziger Lichtblick: Vier junge Frauen, wahrscheinlich noch Schülerinnen. Ruhig, bestimmt und sehr höflich erklären sie dem rosa Hemd, dass weder Lokführer noch Schaffner irgendeinen Einfluss auf die Abfahrtszeiten haben. Dass es keinen Sinn hat, so zu brüllen. Dass er es doch mal selbst als Lokführer versuchen solle. Natürlich beeindruckt ihn das überhaupt nicht. Aber er tottert leiser.
Behaltet das, diese Haltung, diese Gelassenheit. Ihr habt der Menschheit für einen Moment die Würde zurückgegeben, an einem heißen Frühlingstag in Stuttgart.