Notes to self

Kai Voigtländer

Deutsche Szenen (2)

Ein stürmischer Herbstmorgen in Schwerin, grau und nass. Gelbe Blätter tanzen miteinander. Ein sehr altes Paar wackelt zum Aufzug, der sie von der Straße in die Bahnhofsunterführung bringen soll. Oma am Rollator, Opa hinter ihr her. „Brrrr, ist das ungemütlich“, sagt sie und blickt mich freundlich an. „Is halt Herbst“, murmelt er. Sie wieder: „Ja, aber wir dürfen uns nicht beschweren.“ „Überhaupt nicht“, sage ich, „was hatten wir für einen Sommer“. Kurze Pause, erinnerungsfrohes Nicken. „Ach ja“, seufzt sie dann, „was wäre das schön, wenn ich mir die Wärme einmachen könnte“. „Ja“, sage ich, „und dann im November einfach den Deckel abschrauben.“

Unser Gelächter lässt es kurzfristig warm werden im Aufzug. Made my day, die Frau. Was gut ist, das wird eingemacht. Und in schlechten Zeiten schrauben wir einfach den Deckel vom Glas. Und lassen den Duft der Sommerwiese, das Lächeln der Geliebten, das Aroma des Meeres, die Seligkeit eines Ferientages wieder lebendig werden.

Deutsche Szenen (1)

Stuttgart Hauptbahnhof, ein heißer Frühlingstag. Alle schwitzen, alle schieben, die Bahnsteige rappelvoll, Genervtheit liegt in der Luft. Die Ansagen scheppern unverständlich, der RE in Richtung Krxxxxssss fährt heute ausnahmsweise von Gleis Krccassddvvpffff. Kopfschütteln am Bahnsteig.

Im Regionalexpress: fast alle Sitzplätze besetzt. Unklimatisiert, natürlich. Abfahrt war vor acht Minuten. Keine Ansage. Türen auf, Türen zu. Einige murren, die meisten streicheln ihre Smartphones. Ein Mann in Shorts mit XXL-Sonnenbrille steigt ein, sieht sich um, steigt wieder aus, sieht sich auf dem Bahnsteig um. Rein, raus, raus, rein. Jedesmal seufzt die Tür – ihr Alarmton schneidet durch die stickige Luft.

Laute Männerstimmen aus dem Obergeschoss steigern sich zu Wutgebrüll. Ein ledriger Mann im Sportdress stürmt den Gang entlang, das Gesicht zur Faust geballt. Zerrt am Schloss seines Rennrades. Dann schdeige ich jetzt aus, schnaubt er. Reißt das Fahrrad herum in einer schnellen, cholerischen Bewegung, dass sich alle, die da sitzen, ducken müssen, um nicht das Vorderrad abzukriegen. Unter der Last des Fahrrades auf seiner Schulter schwankt er durch den Gang.

Das Wutgebrüll kommt näher, ein Mittfünfziger im rosa Hemd schreit den Schaffner an. Je-den-tag-das-gleiche-je-den-tag-kei-ne-an-sagen-mei-ne-le-bens-zeit! Der Schaffner röhrt zurück. Der Mittfünfziger findet keinen Ausweg mehr, verliert sich in schwäbischer Rechthaberei. Der Fahrradfahrer steht dazwischen, kommt nicht mehr voran, schmeißt sein Rad in die Ecke. Auftritt XXL-Sonnenbrille, der gerade wieder den Wagen betreten will. Brüllt das rosa Hemd an, was ihm einfalle, der Schaffner könne ja auch nichts dafür. Rosa Hemd: Das-ist-mir-scheiß-e-gal-mei-ne-le-bens-zeit! Sich steigerndes Brüllduell am Einstieg. Die Sonnenbrille spuckt das rosa Hemd an.

Dann dieselt die Lok los, die Türen schrillen ein letztes Mal. Sonnenbrille verzichtet auf die Mitfahrt, das rosa Hemd schwankt zwischen Opferrolle (der hat mich an-ge-schpuggd!) und Wutgeheul (ei-ne-hal-be-schtun-de-je-den-tag!).

Das Bürgertum verliert die Fassung. Die Nerven liegen blank. Irgendetwas an diesem Leben ist so unaushaltbar geworden, dass beim kleinsten Anlass alles explodiert. Kompletter Kontrollverlust, keine Hemmungen mehr. Sehr beängstigend.

Einziger Lichtblick: Vier junge Frauen, wahrscheinlich noch Schülerinnen. Ruhig, bestimmt und sehr höflich erklären sie dem rosa Hemd, dass weder Lokführer noch Schaffner irgendeinen Einfluss auf die Abfahrtszeiten haben. Dass es keinen Sinn hat, so zu brüllen. Dass er es doch mal selbst als Lokführer versuchen solle. Natürlich beeindruckt ihn das überhaupt nicht. Aber er tottert leiser.

Behaltet das, diese Haltung, diese Gelassenheit. Ihr habt der Menschheit für einen Moment die Würde zurückgegeben, an einem heißen Frühlingstag in Stuttgart.

Sich selbst verlieren. Und die Welt.

Altersbedingt ging sie sich selbst verloren.

Gelesen habe ich das im Januar, in einem Nachruf auf Anne Rose Katz, geschrieben von Karl-Otto Sauer in der Süddeutschen. Der Satz geht mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf. Ich höre in ihm eine respektvolle Zärtlichkeit, die der Frau Katz auch im vermutbaren Elend ihre Würde lässt und sie nicht gaffender Neugierde oder den Indiskretionen der Phantasie ausliefert. Fast leicht klingt er, manchmal kommt ein Schlüsselbund abhanden, die Brille oder die Armbanduhr gehen verloren – und man sich dann eben auch mal selbst.

Überhaupt ein kleines Meisterwerk, auf 48 Zeilen ein Menschenleben zu verdichten. Leider ist der Text nicht online. Ich hätte sie gerne kennengelernt, dachte ich. Die Fernsehkritikerin und Essayistin, die Mutter, Journalistin, Geliebte, Hofnärrin, Emanze, wie sie über sich selbst sagte. Die Frau, deren Szegediner Gulasch am Faschingsdienstag einer der begehrtesten Termine im Münchener Kulturleben war. Zutritt nur mit persönlicher Einladung.

Als der Text erschien, war Anne Rose Katz schon ein Jahr tot. Der Welt verloren gegangen wie sich selbst.

Kleiner Nachtrag: Hier kann man Anne Rose Katz auch sehen und hören, bei einem Auftritt in der NDR-Talkshow. Wenn man das Gequatsche von Alida Gundlach erträgt.

Die Energie der Fruchtbarkeit

Wolfgang Laib, Pollen from Hazelnut. MoMA, Februar 2013

Wolfgang Laib, Pollen from Hazelnut. MoMA, Februar 2013

 

Allergiker, bitte mal weghören.

Haselnusspollen.

Haselnusspollen? Flüchtiger geht’s kaum noch. Ein Hauch von Staub, vom Winde verweht. Im Mikrometerbereich. Unsichtbar. Aber Wolfgang Laib sammelt die Pollen, streicht sie von den Sträuchern, füllt die gelben Körnchen in Gurkengläser mit Schraubverschluss. Wochenlang, monatelang, jahrelang. Und dann macht er mit ihnen Bilder, die ganze Häuser mit Energie aufladen.

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