zwei / Das war Bremerhaven
Montag, 23. November 2009. Das erste Mal, dass diese Reise mehr wird als ein Papierprojekt, eine Telefonveranstaltung, ein Ichmaildirdasmalschnell-Unternehmen mit Konzeptdiskussionen und Storyboardmalereien.
Im Zug von Bremen nach Bremerhaven treffe ich Kamera-Guido. Wir bringen uns mit zwei, drei Sätzen auf den neuesten Stand, dann quatscht uns ein Mitreisender an: Wir wollten bestimmt zum AWI, an welcher Reise wir denn teilnehmen würden … Der Zug, erfahren wir, ist morgens und abends ein AWI-Express – nur rund die Hälfte der Mitarbeiter des Alfred-Wegener-Instituts wohnt in Bremerhaven, die anderen ziehen Bremen vor.
Was jeder versteht, der jemals in Bremerhaven am Hauptbahnhof ausgestiegen ist.
Guido und ich stolpern durch die Bahnhofshalle, dann durch die Fußgängerzone. Hungrig, verschlafen, von der Zugfahrt gerädert. Termin beim Betriebsarzt des AWI, der uns kennenlernen will und noch ein paar kleinere Untersuchungen angekündigt hat. Grausiges Amtsarztambiente. An den Wänden Pläne der Neumeier-Station und des menschlichen Augapfels.
Bei mir dauert es zwei Stunden, bei Guido anderthalb. Nach unserem bisherigen Medizin-Marathon mit Belastungs-EKG, großem Blutbild, Augeninnendruckmessung, nach zehnseitiger Selbstanamnese, nach Impfungen und eigenhändigem Ausloten der Verwandtschaft auf Erbkrankheiten mag man das übertrieben finden.
Aber sie wollen kein Risiko eingehen. Wenn auf der Polarstern jemand ernsthaft krank wird, dann muss das ganze Schiff umkehren und die Reise unterbrechen. Mit 40 Mann Besatzung und 55 Wissenschaftlern an Bord. Denn Häfen, Krankenhäuser, Infrastruktur gibt es auf dieser Reise nicht. Nur Eis. Und Felsen. Die Hubschrauber an Bord haben eine Reichweite von zwei-, höchstens dreihundert Kilometern. Das reicht nicht, um jemanden nach Feuerland auszufliegen – oder gar nach Neuseeland.
Langes Gespräch über Ernährungsgewohnheiten und die Angst vor der Seekrankheit. „Nehmen Sie Ingwerpulver mit, am besten aus dem Bioladen“, ist sein Tipp, „ein Teelöffel unter die Zunge, das hilft. Sanfter als die Pflaster, und Sie sind nicht so weggetreten.“ Naja. Ich ziehe es vor, nicht erst seekrank zu werden.
Und dann: Eine Baracke am Stadtrand, Außenstelle des AWI, Bekleidungskammer. Auf einmal haben wir die Sachen in der Hand, die uns schützen und wärmen sollen in zweieinhalb Monaten. Fellmütze. Thermohose. Kleidsames Straßenarbeiterorange. So wird man in der Gletscherspalte nicht so leicht übersehen. Ein schwarzer Troyer Größe 58, in dem ich versinke wie in einem XXXL-Eisbärenfell. Daunenweste, Arbeitshandschuhe Gummi. Arbeitshandschuhe Thermo. Guido bestellt uns noch ein drittes Paar Stiefel, mit Innenschuh und Thermosohle. Eine Wollmütze, eine dunkle Sonnenbrille. Spezielle Gesichtscreme.
Die Jungs von der Kleiderkammer arbeiten ihre Ausrüstungsliste ab, Punkt für Punkt, und freuen sich an unserer Begeisterung. Viele Sachen haben Gebrauchsspuren – wo die wohl schon waren, wer damit wohl schon am Nordpol unterwegs war? Auf einmal sind wir Shackleton und Scott und Amundsen und all die anderen Abenteuergestalten aus den Kinderbücher, und es wird fassbar: es gibt diese Reise wirklich. Es wird wirklich kalt. Und „Guido Kilbert“ und „Kai Voigtländer“ steht wirklich auf den vier olivgrünen Seesäcken.
Letzter Akt: Mit der Plombierzange versiegeln sie die Säcke. Die sehen wir erst in Wellington wieder, an Bord der Polarstern. In zweieinhalb Monaten. Übermorgen.