neunzehn / Lexikon der Bordsprache II: Auf Kammer
Nach vier Wochen Polarstern keimt in mir der Verdacht auf, dass hier an Bord Fragmente einer eigenen Sprache existieren: Polarsternesisch. Das Idiom der schifffahrenden Polarforschung. Besonderes Kennzeichen dieser der Welt noch ziemlich unbekannten Sprache: Sie widmet Worte aus dem alltagssprachlichen Gebrauch um und schiebt ihnen einen neuen Sinn unter. Das kleine Lexikon der Bordsprache stellt in loser Folge die schönsten und bildkräftigsten Worte und Wendungen dieser Sprachfamilie vor.
Kammer, bezeichnet in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes einen Raum minderer Güte und zugleich einen Aufbewahrungsort für spezielle oder besonders zu bewahrende Gegenstände oder Personen (↑Besenk., ↑Speisek., ↑Mädchenk.). Auf Polarsternesisch ist K. der Aufbewahrungsort für Wissenschaftler, die K. in der Regel im Doppelpack belegen (Ausnahmen s. ↑Individualismus, übersteigerter sowie ↑Mannschaft). Zur Einrichtung und Ausstattung von K. ↑Blogeintrag Nr. 3.
Linguistische Besonderheit: K. wird ausschließlich ohne den bestimmten Artikel verwendet (gebräuchliche Wendungen: ich bin auf Kammer, komm mich doch mal auf Kammer besuchen).
K. markiert den Bereich der Privatsphäre an Bord. Sofern Privatsphäre das richtige Wort ist für einen Raum, den man als Wissenschaftler mit einer anderen, vor der Reise manchmal auch unbekannten Person zu teilen hat. Nach der Reise ist die Person auf keinen Fall mehr unbekannt, was immer das im Einzelnen für das ↑Verhältnis beider Personen heißen mag. S. auch ↑Schnarchen.
Für die verschiedenen Aggregatzustände der persönlichen ↑Kommunikationsbereitschaft gibt es ein eigens entwickeltes ↑Signalsystem.
- Kammertür offen, der hinter der Kammertür befindliche Vorhang zugezogen: Anklopfen und auf eine Aufforderung zum Eintreten hin eintreten. Wenn keine Aufforderung ertönt: Draußen bleiben.
- Kammertür geschlossen: Noch nicht einmal daran denken, anzuklopfen oder gar einzutreten. Der oder die Kammerbewohner schlafen, ruhen, oder wollen aus anderen Gründen nicht gestört werden.
In der Regel stehen die K.türen offen, auch wenn die Bewohner sich nicht dort aufhalten. Das Leben an Bord ist halböffentlich, der Vorhang eher Membran als festgezimmerte Trennlinie zwischen privater Innen- und öffentlicher Außenwelt. Der Unterschied zu den sonst üblichen Gepflogenheiten wird Festlandsbewohnern spätestens deutlich, wenn sie am ersten Tag auf See aufgefordert werden, ihre K.schlüssel bei der Chefstewardess abzugeben. Niemand schließt hier seine K. ab. Wozu auch? Dem Dieb fehlt das, was seine Tat erst attraktiv macht: Die Fluchtmöglichkeit.
Für Wissenschaftler hat der Aufenthalt auf K. eher episodischen Charakter. Bedeutung, Ausgestaltung und Folgen des K.lebens für Besatzungsmitglieder sind noch weitgehend unerforscht.