achtzehn / Action Painting des Meeresbodens
Bathymetrie … Noch nie zuvor hatte ich dieses Wort gehört. Bathymetrie. An einem der ersten Tage bat ich Fahrtleiter Karsten um eine Karte, die er mir am Bildschirm gezeigt hatte. Klar, sagte er, die kriegst du unten in der Bathymetrie.
Hm. Bathymetrie. Unten. Klingt nach griechisch-römischem Dampfbad. Interessant. Und irgendwie unbedrohlich. Schöner Rhythmus: Drei kurze Vokale, hell-dunkel-hell, ausatmend abgelagert in ein gedehntes i.
Ins Schwitzen kommen kann man schon in der Bathymetrie, aber nur, weil die Rechner dort viel Wärme abgeben. Die Bathymetrie: Ein Raum auf dem Arbeitsdeck, links um die Ecke geht es in den langen Gang der Labore und Arbeitsräume. Hier reiht sich Monitor an Monitor, auf denen sich bunte Flecken, Felder, Punkte, Striche, Linien und Kleckse aufbauen und vorwärts schieben im Tempo der Schiffsbewegung.
Unregelmäßige Muster in bordeaux und nachtblau, in erdferkelbraun, seekrankheitsgrün und zartpink, mal blutrot, mal sandhell und mal arcticblue. Ein stetig fließender Strom von Farbfeldern, Andante vorwärts. Erinnert von ferne an Jackson Pollocks Drippings. Farbe als Rhythmus der Bewegung. Action-Painting des Meeresbodens.
Denn darum geht es in der Bathymetrie, die übrigens ein rein griechisches Dampfbad ist: bathys – die Tiefe, metron – das Maß. Vermessung des Meeresgrundes, Abbildung des ozeanischen Bodens, Darstellung des Unsichtbaren. Wie sieht es da unten aus, in den lichtlosen Tiefen der Tiefsee? Das wollen alle wissen: die hier Proben ziehen, die ihre Schwere- und Kolbenlote, ihre Kastengreifer und Wärmelanzen ins Sediment sinken lassen, die die Wassersäule analysieren und die der Spur der Eisberge folgen. Weltweit sind weniger als zehn Prozent des Ozeanbodens vermessen, bekannt und abgebildet, ein riesiger weißer Fleck, den der so gut ausgekundschaftete Globus aufweist. Und hier, in der Westantarktis, sind es noch viel weniger als zehn Prozent.
Das bathymetrische Bild entsteht aus Tönen. Hydrosweep heißt das Gerät, das in regelmäßigen Abständen einen Schallimpuls nach unten schickt. Aus der Zeit bis zur Rückkehr des Schallimpulses errechnet sich die Tiefe, der Abstand zum Meeresboden. Eigentlich ganz einfach: das Prinzip des Echolots. Nun hat jeder bessere Fischkutter ein Echolot zur Tiefenmessung. An Bord der Polarstern arbeitet aber ein Fächerecholot. Das schickt alle zehn Sekunden einen Ping, so heißt der regelmäßige Impuls, und der strahlt fächerförmig ab zum Meeresboden. Mit 59 Strahlen fingert und scannt das Hydrosweep die Hügel und die Tröge, die Spalten und die Berge, die Risse, die Vorsprünge und die Ebenen des Bodens ab.
Die akustischen Fühler reichen doppelt so weit in die Breite, wie der Meeresboden tief ist. Fahren wir also in der Tiefsee über 3000 Meter Wassersäule, dann rastert das Hydrosweep einen sechs Kilometer breiten Streifen des ozeanischen Bodens. Die empfangenen Daten setzt der Rechner dann in dreidimensionale Bilder und Farbskalen um. Und auf einmal bekommt die unterseeische Tiefe ein Gesicht, das Unsichtbare eine Kontur.
Vor dem Pine-Island-Gletscher konnten wir auf der bathymetrischen Karte die Schrunden und Risse, die Schleifspuren, die Furchen und die Tröge sehen, die die Eisberge in den Meeresboden gekratzt, gezogen und gepresst haben, 800 Meter unter der Wasseroberfläche. Und es war wirklich wie der Blick in ein Gesicht, ein hunderttausend Jahre altes Gesicht: benutzt, zerfurcht, faltig, vernarbt, schrundig, verschorft, aufgerissen und gezeichnet von den Spuren seines Erlebens.
Die Bathymetrie auf der Polarstern, das ist ein kleiner Dienstleistungsbetrieb und gleichzeitig ein wissenschaftliches Projekt. Auf dieser Reise arbeiten daran Laura (die in Bonn gerade ihren Master in Geodäsie macht), Sarah (die in München Geoinformatik studiert) und Norbert vom AWI aus Bremerhaven, der Gruppenleiter. In Vier-Stunden- Schichten bewachen die drei rund um die Uhr das Hydrosweep und fertigen Meeresbodenkarten und Reliefabbildungen für die Bedürfnisse aller wissenschaftlichen Gruppen an. Der Fahrtleiter braucht eine bathymetrische Karte der Pine-Island-Bay für die Abendbesprechung? Die Geologen wollen sich ein Bild von dieser unterseeischen Struktur machen, die ein Schlammvulkan sein könnte? Die Ozeanographen wollen wissen, wo ein Trog beginnt und wo der Boden wieder ansteigt, damit sie ihre Schnitte entsprechend setzen können? Das alles erledigt die Bathymetrie.
Und gleichzeitig dient sie auch einem internationalen Projekt, das sich vermutlich noch ein paar Tage hinziehen wird: Der gesamte Meeresboden rund um die Antarktis herum soll in den nächsten Jahren vermessen und in Form einer bathymetrischen Karte sichtbar gemacht werden. Sämtliche Forschungsschiffe, die hier unterwegs sind, liefern ihre Echolotdaten beim AWI ab, wo die International Bathymetric Chart of the Southern Ocean koordiniert und eines Tages zu sehen sein wird.
Für den Arktischen Ozean ist diese Arbeit schon abgeschlossen. Naheliegenderweise heißt diese Unternehmung International Bathymetric Chart of the Arctic Ocean. Es lohnt sich, hier einmal die Reliefkarte des ozeanischen Bodens unter dem Nordpol zu betrachten und zu studieren. Man kann sich das Bild auch herunterladen. Wie ausladend der Kontinentalschelf vor Russland und Sibirien ist! Wie schmal und tief der Graben zwischen Grönland und Spitzbergen! Wie steil es hinabgeht am Nordpol, vom Lomonosov-Rücken ins Amundsen Basin!
Das ist schön anzusehen. Aber es verschafft einem auch mehr als einen Aha-Effekt. Eher ein exponentielles, weil sinnlich vermitteltes Wachstum von Erkenntnis. Welche Erdkräfte mögen hier gewirkt haben oder wirken, die diese Gräben aufzureißen, diese Bergrücken abzuschleifen vermochten unter dem Arktischen Ozean. Wie vielgestaltig strukturiert und gestaltet bathys doch in Wirklichkeit ist, die uns Oberflächenwesen immer nur als gestaltlose Tiefe erscheint.
As a geologist, schreibt die amerikanische Ozeanographin Kathleen Crane in ihrer Autobiographie Sea Legs, as a geologist, I hoped to examine the big picture of the Earth and to link its physics to its beauty. Schön gesagt. Die Bathymetrie ist einer jener geheimnisvollen Orte, an denen die physics der Erde mit ihrer beauty gekoppelt werden. Ein Ort, an dem Wissenschaft in Schönheit umschlagen kann.