siebenundzwanzig / Schöne Worte III: Nunatak
Am Anfang ein Geständnis: Dies ist ein bestellter Text. Eher ungewöhnlich für einen Blog, den Idealtypus des autonomen Schreibens. Aber ich kann‘s ja mal versuchen.
Die Bestellung kommt von Norbert, Norbert Kaul. Dem Mann mit der Wärmelanze, von den ozeanographischen Spöttern wegen seines Arbeitsgerätes gerne Lanzelot genannt. Aber es geht jetzt nicht um die Wärmelanze. Es geht um die Mail.
Die Texte dieses Blogs stehen auch im Intranet der Polarstern. Was ich anfangs mit durchaus gemischten Gefühlen betrachtet habe. So ein direkter Kontakt zur eigenen Leserschaft kann ja schon gewöhnungsbedürftig sein. Aber es gab so viel Feedback und Gespräche und Gelächter und Anregungen und Verbesserungsvorschläge, das war (und ist) einfach bezaubernd.
Und es kam die Mail. Von Norbert.
Betreff: Schöne Worte (2-4)
28. Februar 2010. 01:16 am
Hallo, Kai, dein Blog ist immer sehr erfrischend. Wie wär’s mit elegischen Gedanken zu: Lasching, Nunatak oder Sastrugi?
Norbert, vergib mir, aber im ersten Moment dachte ich: Will der dich auf den Arm nehmen? Habe ich‘s übertrieben mit dem blumigen Schreiben? Hat er die Worte jetzt erfunden, um zu sehen, ob du anbeißt? Lasching, nun gut, das Verb laschen ist mir vertraut, Seemannssprache für das Festzurren von Ladung aller Art. Nunatak? Sastrugi? Nie gehört. Klingt, wenn überhaupt, nach Eskimosprache. Ja, ich weiß, nicht sehr piißii. Aber egal. Ab morgen sage ich Inuit. Versprochen. Nach längerer Überlegung schrieb ich also vorsichtig zurück:
Betreff: Re: Schöne Worte (2-4)
28. Februar 2010, 06:02 pm
Sehr gerne, lieber Norbert …
Das Problem ist bloß: Was sind das für Wörter? Noch nie gehört oder gar selbst verwendet. Seemannssprache? Eskimonesisch? Bitte um Aufklärung,
Gruß Kai
Und erhielt folgende Antwort:
Betreff: Re: Schöne Worte (2-4)
28. Februar 2010, 11:44 pm
Hallo Kai,
von allem.
Lasching ist Seemannssprache für alles, was die Ladung oder Geräte festhält, meistens Seile oder Gurte.
Nunatak ist eskimonesisch und steht für die Felsen, die aus dem Eis der Gletscher herausgucken, das, wo die Geologen so verzweifelt hin wollen dieser Tage (sogar Wikipedia weiss da was von).
Sastrugi ist ebenfalls eskimonesisch und steht für die Windrippel auf dem Schnee. Ähnlich wie die Wellblechpisten machen die das Fortkommen schwierig. Der Schnee ist also überhaupt nicht so glatt und weich, wie wir uns das aus dem milden Europa so vorstellen.
Gruß, Norbert
Das wäre also geklärt.
Nun ist es mit dem elegischen Wortedrechseln auf Bestellung so eine Sache. Ein bisschen wie Malen nach Zahlen. Andererseits: Lanzelots Hofpoet, das klingt doch auch ganz edel. Elegisch edel.
So, jetzt aber genug der Abschweifung. Nunatak ist ein wirklich schönes Wort. Es hat was lautmalerisches. Ein breites, ausladend lang gesprochenes Nuuna-, dem ein spitz nach oben schnellendes -tak folgt. Wie ein vorwitziger Felsen, der aus einer weiten, unendlich weißen Fläche aufragt. Tak, da bin ich, deine Vertikale, du horizontal ausgebreitete Nunaebene.
Ich habe sie ins Herz geschlossen, bevor ich wusste, dass es Nunataks sind. Falscher Satz, ich weiß, der Plural von Nunatak heißt Nunatakker. Aber jetzt vergisst das keiner mehr, der diesen Text liest. Nu-na-tak-ker. Plural.
Ins Herz geschlossen habe ich sie bei unserem ersten Landausflug. Mit dem Hubschrauber zum Mount Murphy, einem nicht mehr aktiven Vulkankomplex. Der liegt am Rande des Crosson Ice Shelf, im östlichen Teil der Pine Island Bay. Zunächst 40, 50 Meilen vom Schiff aus über eine endlos scheinende Fläche: Das Schelfeis, aufgeworfen und verbogen und gebrochen und gezerrt und glatt geblasen vom Wind. Blendend hell mit blauen Spalten und dramatischen Schattenwürfen. Verkrustet und verspannt. Und überzogen von Sastrugi. Zu denen später, sonst kommen wir ja nie zu Potte hier. Den Berg im Sonnenglast als Ziel vor Augen, das nicht näher kommen wollte.
Dann sind wir gelandet. Auf einer Nadelspitze im Vorgebirge von Mount Murphy – nie hätte ich gedacht, dass man auf so einem Handtuch landen kann. 75°14‘ Süd, 110°57‘ West, Höhe 709 m. Hieß netterweise Kay Peak, unser Landehandtuch. Links von uns dehnte sich eine weiße, glatte Fläche bis zum Horizont, wahrscheinlich noch weit darüber hinaus. Mitten drin in dieser Eiswüste drei dunkelschwarze Felsen, wie hingekleckert in den weißen Strom. Landmarken im Eis. Eine tröstliche Erinnerung, dass hier auch noch irgendetwas anderes zu finden ist als Eis, Eis, und noch mal Eis.
Das sind Nunatakker. Drei Stück. Von rechts nach links: Hedin Nunatak,
Turtle Peak und Dorrel Rock. Dorrel Rock ist der, der ganz ferne hinten im
Hintergrund aufleuchtet. Der Hügel im Vordergrund ist kein Nunatak. Und
auch der Felsen ganz links am Bildrand nicht, der gehört schon zum
Gebirgsgestein von Mount Murphy. Da das Eis hier alles andere als fest ist – im Gegenteil, es fließt mit beachtlichen Geschwindigkeiten aus dem Festland ab in Richtung Meer – muss es sich seinen Weg um die Nunatakker herum suchen. Denn die stehen da nun mal ziemlich fest versteinert rum. Auf dem nächsten Foto kann man erkennen, wie sich der Eisstrom biegt und faltet. Um um die Nunatakker herumzukurven.
Nunatakker sind kein antarktisches Phänomen. Wie auch, dann hätten sie ihren Namen ja nicht von den Inuit bekommen können. Solche Felsen, die aus Gletschern oder Eisströmen herausragen, findet man auch in anderen regelmäßig oder zeitweise vereisten Gebieten. Durch seine Tätigkeit des Herausragens wird der Nunatak, wie die unermüdliche Wikipedia bemerkt, zum Lebensretter vieler Pflanzenarten. Den Himmelsherold, das Dolomiten-Fingerkraut, das Schweizer Mannsschild oder die Alpen-Grasnelke würde es ohne Nunatakker vielleicht gar nicht mehr geben. Was zu bedauern wäre.
Allein das macht sie ja schon rundum sympathisch. Und dass sie in der sie umgebenden, eisigen Unendlichkeit so etwas wie eine kleine, radikale Minderheit repräsentieren. Auch Geodäten schätzen Nunatakker. Auf denen können sie landen, um einen geodätischen Messpunkt in den Fels zu bohren und zu schrauben. Anschließend schauen sie dann regelmäßig, etwa im Abstand von vier Jahren vorbei, um zu sehen, ob noch alles in Ordnung ist mit ihrem geodätischen Messpunkt. Und um eine neue Messung vorzunehmen.
Außerdem gibt es eine Art subglazialer Verbindung des Nunatak zum weltweit geschätzten britischen Humor. Die Spur dorthin legt Wikipedia. Vor den Erläuterungen zum Nunatak findet sich nämlich der Hinweis: Dieser Artikel erläutert einen glaziologischen Begriff; zur gleichnamigen Musikgruppe siehe Nunatak (Band). Wir sehen umgehend nach, um dort zu lesen, dass Nunatak die Hausband der britischen Rothera-Station auf der Antarktischen Halbinsel ist.
Sie besteht aus fünf jungen Wissenschaftlern der Forschungsstation, die ihren Musikstil als „Indie-Rock-Folk-Fusion“ bezeichnen. Am 7. Juli 2007 nahmen die Hobbymusiker an der Konzertreihe „Live-Earth“ teil. Ihr Auftritt vor den verbliebenen 17 Personen der Stationsbesatzung im antarktischen Winter wurde mehrmals an diesem Tag weltweit von verschiedenen Medien ausgestrahlt und erreichte rund zwei Milliarden Zuschauer und Zuhörer.
Zum Schluss vermerkt der ungemein lesenswerte Artikel, dass die Band noch nie außerhalb von Rothera aufgetreten ist.
Von Rothera, der britischen Antarktisstation, ist unser Weg nicht weit zum hier bereits an anderer Stelle erwähnten Ian MacNab. Als Mitarbeiter des British Antarctic Survey, kurz BAS, ist er auf der Polarstern sowohl im Hardrock- wie auch im Schlammologenbusiness tätig. Auch Ian hat bereits auf Rothera überwintert. Beim Abendmeeting vor einigen Wochen hat er uns einen Film vorgeführt, der während dieser Überwinterung entstanden ist. Im Rahmen des Antarctic 48 hours film festival.
Dieser Wettbewerb, von dem die Welt noch verhältnismäßig wenig ahnt, steht Mitarbeitern aller Antarktisstationen offen. 48 Stunden: das ist die Zeit, in der die Teams der einzelnen Stationen einen Film konzipieren, drehen, schneiden und vertonen sollen. In jedem Film eines Festivaljahrgangs müssen dabei fünf Dinge vorkommen (die sogenannten film criteria). 2009 waren das:
1. A temperamental continental chef
2. A funny hat
3. A toilet roll
4. Sound of a beer can opening
5. Dialogue: „Do you want to buy a dog?“
Das Werk, das die Überwinterer von Rothera 2009 in 48 Stunden gedreht, geschnitten und gestaltet haben, kann unter dem Titel „The Quest for the Golden roll“ hier betrachtet werden. Unbedingt empfehlenswert, denn es vermittelt einen plastischen Eindruck sowohl von den Entbehrungen, denen die Stationsmitarbeiter ausgesetzt sind, als auch vom aktuellen Zustand des britischen Humors. Und es zeigt, zu welchen Ausbrüchen an Kreativität eine Überwinterung im antarktischen Eis führen kann.
War das jetzt elegisch genug, Norbert? Ich weiß nicht … Aber ich staune, wie weit man kommen kann, wenn man sich einfach mal in ein schönes Wort hineinversenkt. Wie in Nunatak.