siebzehn / Polarsternesisch, oder: Lexikon der Bordsprache
Backbord und Steuerbord, laschen, fieren und hieven, Achterdeck und Leeseite … Nicht genug, dass man den festen Boden unter den Füßen verloren hat. Man muss sich außerdem noch einen Satz neuer Begriffe einprägen. Die Seemannssprache, sie hat ihre eigenen Regeln und Gesetze, aber vor allem: ihre ganz eigenen Ausdrücke.
Wer zum Beispiel unter abbacken als gut konditionierter Hausmann das Fertigbacken eines schon vorbereiteten oder aufgegangenen Teigstücks zum Kuchen oder Brötchen versteht, der ist vollkommen schief gewickelt. Abbacken auf Seemännisch heißt: Alles von der Back schaffen, den Tisch abräumen. Es hat an Bord aber noch nie jemand zu mir gesagt: „Nu back ma endlich ab, du Langsamesser!“ Wie auch? Das Abbacken wäre ja der Job des Backschafters. By the way: Auch der ist mir hier noch nicht untergekommen.
Egal. Bevor wir hier zwischen Backbord und Backschaft verloren gehen: Seemännisch ist eine lebendige Sprache, in der neue Worte auftauchen und alte außer Gebrauch geraten können. Ein Soziolekt, wie Wikipedia mich belehrt hat. Denn seemännisch ist nicht einfach nur die Fachsprache der auf schwankenden Planken Tätigen. „Da Seeleute meist auch eine gesellschaftliche Schicht mit eigener Kultur darstellen“, ist das Seemännische auch noch das Verständigungsmittel einer abgegrenzten Gruppe. Die Sprache entscheidet, wer zum Club dazugehört. Sie hilft bei der Selbstbehauptung. Sie schafft Identität. Sie beschreibt Regeln und Rituale, Hilfsmittel und Hierarchien des seemännischen Soziotops.
Wen es nach (zumindest sprachlichem) Eintauchen in dieses Soziotop verlangt, der sehe sich bei Wikipedia die Liste seemännischer Fachwörter an. Beeindruckend. Von A.B. (für able bodied) bis Zwölfhauer schon fast ein Lexikon der Seemannssprache. Und wer dann noch nicht fließend seemännisch palavert (die Liste seemännischer Fachwörter definiert Palaver als „Besprechung, nicht endendes Gerede“, welche Gleichsetzung jeden entzücken wird, der einmal an einer Besprechung teilgenommen hat), derjenige jedenfalls möge zum Standardwerk von Friedrich Kluge greifen: Seemannssprache. Wortgeschichtliches Handbuch deutscher Schifferausdrücke älterer und neuerer Zeit, erschienen im Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses, Halle a. d. Saale 1908 (Nachdruck der Ausgabe 1911: Hain, Meisenheim 1973).
Nach vier Wochen Polarstern keimt in mir der Verdacht auf, dass hier an Bord noch ein untergeordneter Soziolekt (nennt man das dann Sublekt oder Subsoziolekt?) existiert: Polarsternesisch. Das Idiom der schifffahrenden Polarforschung. Meinethalben auch polarologisch oder polarsternologisch. Schluss jetzt mit dem Gealbere, das ist ernste Sprachforschung hier!
Besonderes Kennzeichen dieser der Welt noch ziemlich unbekannten Sprache: Sie widmet Worte aus dem alltagssprachlichen Gebrauch um und schiebt ihnen einen neuen Sinn unter. Das kleine Lexikon der Bordsprache stellt in loser Folge die schönsten und bildkräftigsten Worte und Wendungen dieser Sprachfamilie vor.
dampfen, auch als substantivierte Verbindung (das Dampfen) verwendet, urspr. Verb mit lautmalerisch-gemütlicher Anmutung, lässt Assoziationen an ↑Jim Knopf, das ↑Lummerland und die ↑Augsburger Puppenkiste aufkommen (wattebällchenpustende Lokomotive auf plastikfolienbewegter See). D. bezeichnet eine Fortbewegungsart des Schiffs nahezu ohne wissenschaftliche Aktivitäten (Gegenteil: ↑Station, ↑streamern). Kommt in der mündlichen Kommunikation vor: „Wir dampfen jetzt erst mal ne halbe Stunde“. Schriftlich unter anderem in den work plans des Fahrtleiters zwischen zwei mit genauen Koordinaten bezeichneten Wegpunkten: „ca. 40 nautische Meilen dampfen“. Gedampft wird, soweit es die Verhältnisse zulassen, meist mit etwa 10 Knoten, also vergleichsweise schnell. Physischer Dampf wird beim d. nur selten beobachtet.