sechzehn / Im Würgegriff des Rieseneisbergs
15:33 Bordzeit
Kollaps, Kollision, Katastrophe: Focus.
Die von FOCUS haben mal wieder ganze Arbeit geleistet. Oder die von FOCUS.online, das lässt sich an Bord leider nicht genau recherchieren. Die von der Redaktion verbreitete Meldung läßt sich dafür um so besser recherchieren. Leider.
Neuer Riesen-Eisberg bringt Sauerstoffgehalt der Weltmeere in Gefahr. Brillante Zeile. In Deutschland werden jetzt wahrscheinlich die Sauerstoffflaschen knapp, weil sich die Bevölkerung flächendeckend eindeckt mit den Dingern. Man kann ja nie wissen. Wenn BILD das erst in die Finger kriegt … Im Würgegriff des Rieseneisbergs: Die Weltmeere schnappen nach Luft. Das muss man sich nur mal bildlich vorstellen. Sofort wird einem selbst der Atem knapp, irgendwie.
Aber das ist erst der Anfang. Die Meldung meldet weiter. Mit FOCUS- typischer Recherchetiefe, könnte man sagen. Aber nein, kein Kollegenbashing. Einfaches Lesen reicht schon.
„Ein Eisberg in der Größe Luxemburgs ist in der Antarktis gegen einen Gletscher geprallt und hat dort einen weiteren riesigen Eisberg losgelöst. Beide trieben nun nebeneinander in rund 100 bis 150 Kilometer Entfernung von der Antarktis weg, erklärte der australische Glaziologe Neal Young am Freitag. Wissenschaftler befürchten, dass die beiden Eisberge den Sauerstoffgehalt in den Weltmeeren negativ beeinflussen könnten. Der neue Eisberg ist knapp 80 Kilometer lang und knapp 40 Kilometer breit, er enthält laut Young etwa ein Fünftel der weltweit jährlich verbrauchten Wassermenge. Forscher sind besorgt darüber, dass in der für die Meeresströmungen bedeutsamen, bislang eisfreien Wasserfläche nahe dem Gletscher nun Eisberge treiben. Nach der Kollision am 12. oder 13. Februar und dem dadurch erfolgten Verschwinden eines Teils des Gletschers könnte sich dort darüber hinaus noch mehr Eis ansammeln. Dies würde die Sinkfähigkeit kalten Wassers beeinträchtigen, erklärte der Klimaexperte Steve Rintoul. Dieses absinkende Wasser versorgt die weltweiten Meeresströmungen mit Sauerstoff. Da es nur wenige Stellen auf der Erde gebe, wo dies geschehe, würde eine Verlangsamung dieses Prozesses bedeuten, dass weniger Sauerstoff in die tiefen Strömungen gelange.“
Klingt einfach zu gut. Kollision, Katastrophe, Kollaps. Die drei K‘s des FOCUS-Journalismus. RIESENEISBERG. Die Titanic grüßt aus der Tiefsee. Die kriegt dann ja auch weniger Sauerstoff. Was ihr wahrscheinlich gut tut, denn dann rostet sie langsamer. Anyway, irgendwie hat das bestimmt auch wieder mit dem Klima zu tun. Also mit der Groß- und Generalkatastrophe unserer Zeit.
Bullshit. Die ganze Meldung. Ein Haufen Bullshit in der Größe von Niedersachsen, um im Bilde zu bleiben. Mit einigen Einsprengseln von wirklichen Dingen.
Schon in sich ist das nicht schlüssig: Wenn die beiden Eisberge von der Antarktis wegtreiben, dann machen sie das, was alle Eisberge machen, wenn sie sich einmal vom Schelfeis gelöst haben. Sie gehen auf ihre jahre-, wenn nicht jahrzehntelange Reise. Mit dem antarktischen Zirkumpolarstrom. Oder im antarktischen Küstenstrom, einer Meeresströmung, die entgegen dem Uhrzeigersinn um die Antarktis herum strömt. Sie schrabbeln mal hier an und mal dort, laufen auf Grund, schieben sich frei, schmelzen, bröseln, splittern und brechen auseinander, bis sie so groß sind wie die Eiswürfel im Whiskyglas von Helmut Faktengott Markwort. Aber die Sauerstoffproduktion in der bislang offenen Wasserfläche nahe dem Gletscher können sie dann nicht mehr beeinflussen. Denn da sie sind ja weggetrieben.
Und wenn sich an der Stelle des weggebrochenen Gletschers jetzt vermehrt Eis ansammelt, dann ist das genau das, was die Frischwasserproduktion und damit die Sauerstoffbildung anregt. Direkt an der Schelfeis- oder Gletscherkante finden sich häufig freie Wasserflächen, die sogenannten Polynias. Hier rasen ungebremst die eisigen Winde vom Festland herunter, die katabatischen Winde. Die schieben die Eisschollen immer wieder weg, und wenn die Lufttemperatur niedrig genug ist, dann bildet sich auf dem wärmeren, frei geschobenen Wasser eine Eishaut – frisches Eis. Wenn salziges Wasser gefriert, dann gefriert das Salz nicht mit. Es fällt aus. Je mehr Salz im Wasser gelöst ist, desto größer ist die Dichte des Wassers. Das Wasser wird schwerer. Dieses salzige, schwere Wasser sinkt nach unten und nimmt dabei frischen Sauerstoff mit. Das ist der Frischwasser-Sauerstoffstrom, der als Antarktisches Bodenwasser die Weltmeere in der Tiefe oder am Boden beatmet.
Ich weiß, ich weiß: das klingt alles oberschlau, und ich hab sowieso gut reden hier auf meinem Kutter voller Experten. Und, offen gesprochen, vor dieser Reise waren mir solche Zusammenhänge auch, nun ja, eher unscharf im Bewußtsein. Aber es geht gar nicht um Spezialwissen, ein Ozeanographiestudium und um den einfachen Zugang zu Experten. Es geht um ganz elementare Dinge. Plausibilitätsprüfung, zum Beispiel. Eine Information in Relation setzen. Journalistische Basics.
FOCUS meldet leider nicht, wo die Kollisionskatastrophe stattgefunden hat. Antarktis, der finsterkalte Ort, wo luxemburggroße Eisberge kollabieren – mehr Fakten wollen wir dem Leser denn doch nicht zumuten. Laut der von tagesschau.de verbreiteten dpa-Meldung ist ein Stück von der Zunge des Mertz-Gletschers abgebrochen. Der liegt, wie ein Blick auf die Karte verrät, westlich der Ross-See, vor der George V Coast. Ein fingernagelgroßes Fleckchen auf der Karte, geschätzte dreihundert Mal würde der Gletscher auf das Ross Schelfeis passen. Wenn dem eine Ecke abbricht, kann das die weltweite Versorgung der Weltmeere mit Sauerstoff beeinträchtigen? Wäre zumindest mal eine Überlegung wert.
Und dann, eine klitzekleine Miniminirecherche wenigstens: Wo findet die Sauerstoffproduktion für die Weltmeere eigentlich statt? Was Antarktika betrifft: zu 60 bis 70 Prozent im Weddelmeer, vor dem Filchner-Ronne-Schelfeis. Und zwei Drittel von den restlichen 30 bis 40 Prozent verantwortet das Ross-Meer. Beides Gebiete, die den RIESENEISBERG noch gar nicht zu Gesicht bekommen haben. Die Weltmeere können aufatmen. Die Kollision war denn doch eher ein lokales Ereignis. Mit lokalen Folgen.
Warum ich darauf so herumreite? Weil Meldungen dieser Art den ohnehin schon garstigen Graben zwischen Wissenschaftlern und Journalisten zum Marianengraben machen, tiefer als tief. Weil das mediale Ausrufen von Katastrophen im Wochentakt abstumpft gegenüber den wirklichen Katastrophen. Und weil wir Journalisten uns nicht wundern dürfen, dass uns viele Vertreter der Wissenschaft misstrauisch bis feindselig begegnen. Wenn wir es nicht schaffen, die einfachsten Regeln unseres Handwerks zu befolgen, dann haben wir den Anspruch verwirkt, ernst genommen zu werden.
Das Gelächter an Bord über die RIESENEISBERG-Meldung hätte jedenfalls schon ein kleines Seebeben auslösen können. Aber pssssssst, nicht weitersagen. Wenn die von FOCUS das mitkriegen, dann sind wir auf Polarstern nachher noch schuld am Tsunami …