zwölf / Suppenwaagerechte im Sturm

18:30 Bordzeit

Lustig war das schon, die Sache mit dem Seegang. Schreibe ich jetzt.
Jetzt, wo der Südliche Ozean seit Tagen daliegt wie eine ebene Fläche. Wo die wilde Welle nichts ist als eine ferne Erinnerung. Der Südozean: Eines der stürmischsten Meere der Welt. Heißt es. Ruhig und glatt erscheint er uns, vor und hinter Polarstern, an Backbord und an Steuerbord auch. Spiegelglatt. Manchmal rollt eine lange Welle über die Wasserfläche. Dann wogen die Schollen und die losen Eisplatten auf einer bleigrauen, schweren Decke. Auf und nieder, langsam und zäh, auf … und … nieder

Auf
und
nieder

Unwetter in Breitbildformat

Der Ozean atmet. Wie ein Yogalehrer.

Die Geophysiker an Bord sind stumm vor Glück über die Qualität der seismischen Daten, die ihre Hydrophone aus dem stillsten aller Ozeane fischen. Naja, ganz stumm nun auch wieder nicht, aber das ist eine andere Geschichte.

Katabatische Winde? Orkane vom Festland? Manchmal legt sich sogar die Dünung schlafen. Würde der schwarze Schirm der Tischlampe nicht im Rhythmus der Dieselmotoren zittern, wäre da nicht dieses leise Vibrieren – es fühlte sich hier auf der Kammer an wie ein landgestützer Schreibtisch mit Eisblick. Wetterbericht von heute, 0 Uhr UTC: Position 72,4° Süd, 139,1° West. Polarstern befindet sich derzeit im Bereich geringer Druckgegensätze. Das kann man wohl sagen.

Aber die drei Tage am Rande des Sturms, die waren lustig. Für die jedenfalls, die nicht von der grüngesichtigen Krankheit geplagt waren. Die keine diskreten Pflaster hinter dem Ohr tragen mussten. Wem sich nicht der Magen umdrehte zwischen Berg und tiefem tiefem Wellental, der kam zu ganz neuen Erfahrungen. Vor allem körperlicher Natur.

Ich traue seitdem keiner Treppe mehr an Bord. Nicht denen draußen. Und erst recht nicht dem Treppenhaus innen. Schlimm genug, dass die Stufen eigentlich nur Platz für meine halbe Fußlänge haben. Aber mit dieser Wellenbewegung … Die erste Hälfte der Treppe kämpfst du dich gegen schwere Widerstände bergauf. Beim Runterlaufen, wohlgemerkt. Trittst auf der Stelle. Dann kippt das Schiff, und im Wellental rennen die Beine unter dir los. Ohne vorher zu fragen, versteht sich. Weh dem, der da keine Hand am Geländer hat. Besser noch: beide.

Und man kann überhaupt nichts dagegen machen. In Worten: Nichts. Kein Wunder, dass sich Augustinus und andere Kirchenväter von der Last der Leiblichkeit befreien wollten. Die waren viel mit Schiffen unterwegs. Das Wort Festkörperphysik ist ab neun Beaufort die reine Provokation. Es gibt keine festen Körper mehr. Und wenig festes am Körper.

Die Mitreisenden, die sich noch in die Gänge trauen, eiern von Wand zu Wand wie angeschickerte Bachstelzen. Man muss es schaffen, den dazu versetzten Rhythmus zu finden. Sonst kollidieren die formerly festen Körper.

In der Messe: volle Suppentasse in der Hand, voller Vorfreude auf die Mittagsmahlzeit. Wenn da nicht die Navigation in Richtung Tisch wäre: Das Mensch-Teller-Tasse-Geschoss beschleunigt drei Schritte abwärts auf 25 km/h, schöööööön das Gleichgewicht am Tellerrand ausbalanciert. Schwapp. Dann rollt die Gegenbewegung. Das Tasse-Teller-Mensch-Geschoß, voll ausgebremst, wuchtet den Rest der Suppe bergauf. Immer die Suppenwaagerechte im Blick. Schwapp Schwapp. Die Handgelenke versuchen sich in kardanischer Aufhängung. Und die Suppe schaukelt unschuldig im Unterteller. War was? Nur Feiglinge lassen sich die Tasse bloß halb füllen.

Duschen bei acht Beaufort. Ist wahrscheinlich schon lange von der
Seeberufsgenossenschaft verboten. Es weiß bloß keiner. Einzige Lösung: Den Hintern an die Kacheln, alle Zehen in den Boden krallen. Den Rest anspannen. Den Fehler, seine trockenen Sachen dabei auf den Boden der Naßzelle zu legen, den begeht man auch nur einmal. Schwapp.

Wer behauptet, er könne bei diesem Wellengang noch schlafen … Nun ja. Manchmal liegen die Beine gefühlte 45 Grad höher als der Kopf. Dann
drücken die Eingeweide gegen den Brustkorb. Schwapp. Das Schiff rollt zur Seite. Schwapp. Auf dem Rücken liegen: Geht gar nicht. Auf dem Bauch: Erst recht nicht. Stabile Seitenlage, Beine angewinkelt, den Kopf in die Ecke der Koje verkeilt: Das geht so gerade. Aber für ruhigen Schlaf langt es nie und nimmer. Und wenn eine Seitensee das Schiff schüttelt, dann knackt und ächzt es in den Innereien der Kammer wie in einem schlechten Piratenfilm in der Nacht vor dem Angriff der spanischen Flotte.

Die Seitenseen, die sind die schlimmsten: Wir lagen schon in den Kojen,
irgendwann nachts. Eigentlich nur mäßiger Seegang. Da rollt es auf einmal von links nach rechts, von rechts nach links, ein Scheppern und Rutschen, und beide Tische sind abgeräumt. Gläser, Bücher, Flaschen, Teller, Obst, Schreibwerkzeuge: Schwapp. Den Fehler machen wir auch nie wieder.

Am Abend des Sturms bin ich auf die Brücke – gegangen, wollte ich schreiben aus reiner Routine. Nein, es war eine andere Fortbewegungsart. Egal. Aber da oben: Wow! Unwetter gucken im Breitbildformat. Angstlust in den Augen. Freie Sicht auf den Bug, vier Decks tiefer. Der steigt hoch auf der Welle und hoch und immer noch hoch und noch mal höher, unfassbar hoch. Bis die 22 Brückenfenster nur noch Himmel zeigen. Und dann saust er  zu Tal, eine weiße Fontäne verschlingt ihn. So tief taucht er ein in die schwarze Flut, dass die Landratte in mir denkt: Nie und nimmer kommt der wieder. Aber natürlich kommt er wieder und steigt schon wieder, der nächsten Woge entgegen. Kein Licht sonst im Raum. Der Wachhabende dimmt das Radar und alle anderen Instrumente, bis sie nur noch dunkel glimmen. Aus den Boxen schallt In Extremo.

Anderthalb Stunden habe ich da gestanden, gesessen, mich festgeklammert und ins wogende Dunkel gestarrt. Irgendwann nimmt der Körper den Wellengang auf, gibt nach und federt mit im richtigen Rhythmus. Ein schönes Gefühl. Jedenfalls bis zur nächsten Seitensee.

Ach so: Schlafen bei Seegang, sprach der Mann auf der Brücke und grinste, schlafen bei Seegang gibt knackige Arschbacken. Weil man immerzu alles anspannt. Komm wieder, Woge!