zwanzig / Hard Rocking Scientists oder: Was von Steinen übrig bleibt

16:50 Bordzeit

Vorsicht! Das wird ein langer Text. Ein schrecklich langer Text. Ja, ich weiß, das ist eine der besten Methoden, um Leser zu vergraulen: Sie gleich zu Anfang einzuschwören auf einen Riesenriemen. Aber andererseits: Zeit ist relativ relativ. Und die Reise, die dieser Text unternimmt, durchmisst einen Zeit-Raum von vielen Millionen Jahren. Sowie noch ein paar Arbeitstage im Labor. Das ist beim besten Willen nicht in 60 Zeilen abzufiedeln, wie Kamera-Guido sagen würde. Also anschnallen bitte, auf geht‘s!

Cornelia Spiegel und Julia Lindow von der Universität Bremen, James Smith und Ian MacNab vom British Antarctic Survey bilden die Arbeitsgruppe Landgeologie auf dieser Expedition. Wir sprachen schon von ihnen. Hardrock Scientists, sagen die Engländer. Klingt lustig, jedenfalls für Außenstehende: Angenehm, Smith, ich arbeite im Hardrockbereich.

Wenn die Polarstern nahe genug an den antarktischen Kontinent herankommt, wenn Wind und Wetter mitspielen, dann fliegen die vier mit dem Hubschrauber an Land. Um Material zu sammeln für ein Geländeprofil. Material bedeutet: Steine oder Gestein. Profil bedeutet: Das Gestein stammt aus verschiedenen Höhenlagen. Es kann und soll etwas erzählen über die Geschichte des Klimas. Über die Zeiträume, in denen Gletscher gewachsen sind und sich zurückgezogen haben.

Aber wenn es das erzählen soll, dann darf das Gestein nicht Stein bleiben. Denn die Geologen unternehmen eine Reise durch die Strukturen des Materials. Durch alle Dimensionen der Materie. Eine Reise vom Großen ins Kleine, von ganz schön grob zu hochgradig fein. Wobei: Hochfein trifft es auch noch nicht. Gibt es ein Wort für feiner als fein? Allerfeinst? Ultrafein? Deutschlehrer, bitte melden!

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Fein, feiner, unfassbar fein? Naja. Meine Reiseleiterin war Julia, die mir erklärt hat, wie sie die Steine für ihre Dissertation behandeln will. Oder besser: das, was von den Steinen übrig bleibt. Das Verfahren heißt Uran-Thorium-Helium-Datierung. Aber von Uran, Thorium und Helium, oder auch von (U-Th)/He, sind wir noch ein paar klitzekleine Steinstufen entfernt.

Die Arbeit der Hard Rocking Scientists beginnt mit einem hochfrequenten Kreischen. Sie beginnt mit einem STIHL TS 410. Ein Diamant-Trennschleifer, betrieben mit einem Gemisch aus Benzin und Motoröl. Hubraum 66,7 Kubikzentimeter, viereinhalb PS. Sein Kampfgewicht: neuneinhalb Kilo, ohne Treibstoff und Trennscheibe. Damit lösen sie etwa 3 Kilo schwere Stücke aus dem anstehenden Gestein. Also aus dem massiven Felsen, nicht aus herumliegenden Steinbrocken. Apatit soll es sein, eine spezielle Mineralgruppe, die vor allem in Granitgesteinen zu finden ist.

Wenn die Polarstern diese Brocken bis nach Bremerhaven geschafft hat, dann kommen sie in die Spindelpresse. Die reibt und raspelt so lange am Stein herum, bis er etwa Splitgröße hat.

Der Split wandert, zweiter Schritt, in den Backenbrecher. Hinter welchem sympathischen Namen zwei sich gegenläufig zueinander bewegende Stahlplatten stecken. Die bringen das Material auf Korngröße. Machen also Sand aus dem Split.

Der Sand kommt ins Sieb. Damit verringert sich das Ausgangsmaterial etwa um die Hälfte.  Was durchs Sieb fällt, also die gewünschte Größe hat, wird anschließend gewaschen. Dabei trennt sich der Staub vom eigentlichen Material.

Der übriggebliebene Teil vom antarktischen Gesteinssand geht in den Frantz. Das ist kein bremischer Hardrockscientist, sondern ein Magnetabscheider, der die magnetisierbaren von den nichtmagnetisierbaren Bestandteilen des Sandes trennt. Nach rechts wandern die magnetisch ansprechenden Teilchen, links laufen die schwer magnetisierbaren Teilchen aus dem Frantz. Julia arbeitet weiter mit den schwer oder gar nicht magnetisierbaren Teilchen.

Ein paar hundert Gramm sind nur noch übrig vom 3-Kilo-Brocken aus der Antarktis. Diese  Teile durchlaufen jetzt zwei Schweretrennungen. In einer Schwereflüssigkeit trennen sich die Bestandteile des sandigen Pulvers je nach ihrer Dichte. Die leichteren Teile schwimmen obenauf, die schweren sacken nach unten. Bei der ersten Trennung nimmt Julia die schweren Bröckchen. Beim anschließenden Trennen dieser schweren Bröckchen scheiden sich die Minerale noch einmal in zwei Gruppen, die sie dann getrennt weiter bearbeitet.

Am Ende dieses Prozesses bleiben von rund 100 Gramm feinstkörnigen, hellen Sandes ein paar hundert Mikrogramm übrig. Ein Zuckerwürfel Gesteinsmehl aus der Antarktis, der gleich in die nächsten Auswahlstufen kullert.

Unter dem Mikroskop pickt Julia die intakten Kristalle heraus. Intakt heißt, dass das Korn eine intakte Grundstruktur hat. Dass es keine Anwachsungen hat. Dass es klar und rein erscheint. Wie ein Bergkristall. 20 bis 30 Körner, die zumindest oberflächlich in Ordnung sind, sollten diesen Prozeß überstehen.

Die Körner, die die Reise bis hierhin überlebt haben, wandern unter ein Polarisationsmikroskop. Hier leuchten störende Einschlüsse in den Kristallen auf. Noch einmal picken. Die Kristalle mit den Einschlüssen aussortieren. Wenn alles gut geht, dann hat Julia am Ende 10 perfekte Körner ausgesiebt. Die fotografiert und vermisst und dokumentiert sie. Rechts, links. Vorne. Hinten. Oberseite. Unterseite Diese Körner sind der eigentliche Untersuchungsgegenstand.

Jetzt sollte ich kein Material mehr verlieren. Sagt Julia. Klingt anstrengend, bei Körnchen,  so klein, dass man sie mit bloßem Auge nicht mehr sehen kann. Drei bis fünf der Körner müssen mindestens übrig bleiben. Drei bis fünf Körner von den drei Kilo Gestein, die die Reise einmal angetreten haben.

Julia greift zum Platinröhrchen. Mit Pinzetten. Anders geht es kaum, denn das Platinröhrchen (Länge: ein Millimeter) hat einen Durchmesser von 400 Mikrometern. Mit einer Pinzette das Röhrchen an einer Seite zukneifen. Dann den Kristall hinein bugsieren. Die andere Pinzette hält währenddessen das Röhrchen fest. Einen heiklen Moment nennt Julia das. Vor allem, wenn sie das Röhrchen am anderen Ende zumacht. Denn wenn dabei das Korn einmal aus dem Röhrchen hüpft: No chance. Dann ist es weg und der Tag nicht mehr ihr Freund.

Die Röhrchen schickt sie an die Universität von Melbourne. Dort steht ein Quadropol-Massenspektrometer. Dieses Gerät erhitzt die Bremer Platinröhrchen mit einem Laserstrahl. Die Wärme setzt das im Kristall eingeschlossene Helium frei. Und das Massenspektrometer spuckt den Helium-Anteil der Kristallkörnchen als Messwert aus.

Was von Steinen übrig bleibt? Zehn Körnchen im μm- oder Mikrometerbereich. Eine Helium-Spur in einem Excelsheet. Und am Ende? Gar nichts mehr. Denn die Heliummenge allein sagt noch gar nichts. Für die Zeitbestimmung entscheidend ist das Verhältnis des Heliums zur Menge von Uran und Thorium im Korn. Helium ist ein Zerfallsprodukt der beiden anderen. Darum wandert das Korn, letzte Station der langen Heldenreise, in ein Säurebad. Und gibt, sich auflösend, ein letztes Geheimnis preis: die in ihm noch vorhandene Menge von Uran und Thorium.

Warum ist diese Mengenangabe wichtig? Wir reden über Gestein, seit einigen Minuten. Gestein, das schon eine äonenlange Reise hinter sich hat, wenn die Hardrock Scientists es aus dem Felsen flexen. Aufwärts aus dem Erdinneren ging die Reise. Über verschiedene Zustände der Schmelze, der Flüssigkeit, der Zähflüssigkeit und Versteinerung. Es hat sich verfestigt auf seinem Weg durch die Erdkruste nach oben und ist dabei immer kühler geworden. Darauf reagiert das Helium im Gestein. Ist dieses Gestein wärmer als 40 Grad, dann sind die Helium- lphateilchen noch mobil genug, um sich aus dem Mineralstaub zu machen. Unterhalb von 40 Grad dagegen bleibt das Helium im Kristallgitter eingebuchtet.

Aus dem Mengenverhältnis der Teilchen zueinander kann Julia nun Schlüsse ziehen. Findet sie in einer Gesteinsprobe viel Helium und wenig Uran und Thorium, dann ist das Gestein vor langer Zeit abgekühlt. Denn es musste relativ viel U/Th zerfallen, um diese bestimmte Menge an He zu produzieren. Findet sie die gleiche Menge Helium vor und dazu eine größere Menge an Uran und Thorium, dann ist das Gestein entsprechend jünger.

Da der Temperaturverlauf im Erdinneren relativ gut bekannt ist, steht am Ende dieses ein wenig komplexen Arbeitsganges eine relativ einfache Antwort. Eine Antwort auf die Frage:

Wann hat das Korn,
das einmal Pulver war,
das zu einer Sandmenge gehörte,
die Teil eines Splithaufens war,
der einmal einem Felsen gebildet hat,
der immer noch auf einer Insel in der Pine Island Bay liegt,

eine bestimmte Tiefe in der Erdkruste passiert? Wie lange hat es bis zur Oberfläche gebraucht? Wie alt ist das Gestein?

Was für eine Reise. Vom Trennschleifer bis zum Massenspektrometer. Durch alle Formen und Zustände. Von der Oberfläche über die Alphateilchen bis zur Auflösung aller Teilchen. Materie reloaded, vom Stein bis in seine innerste Struktur. Und alles nur, um einen Datumsstempel auf einen Stein zu bekommen.

Ein schrecklich langer Text? Stimmt. Tschuldigung. Aber andererseits: Bedenkt man, wie viele Millionen Jahre das Gestein für seinen Weg durch die letzten fünf Kilometer der Erdkruste gebraucht hat, sind die vergangenen siebeneinhalb Minuten Lesezeit doch eigentlich – ja, was eigentlich? Unfassbar wenig? Ein Hauch von Helium in einem Meer von Steinen? Ein Tintenklecks im Pazifik? Deutschlehrer, wo seid ihr?