vierzehn / Ein Klavier am McMurdo-Sund

23:15 Bordzeit

Die großen Abenteuer, sie sind bestanden, die Zeit der Abenteurer ist vorüber. Heißt es. Wenn die Entdeckungsreisen zu den Polen der Erde denn Abenteuer waren und nicht einfach Unternehmungen, um Menschen und Tiere auf möglichst grausame Weise in die ewigen Frostgründe zu befördern, dann sind sie als Abenteuer abgehakt. Die Weltkarte mit den weißen Flecken liegt zusammengerollt im Archiv der großen Entdeckungen.

Die Große Eisbarriere, heute nennen wir sie Schelfeiskante: bezwungen.
Viele Menschen haben den geographischen Südpol betreten und besetzt. Die leeren Eis- und Steinflächen, Hügel und Gebirge sind benannt und kartographiert, bis zum letzten Inselchen und Halbinselchen, bis zur kleinsten Bucht oder Felsennase.

Marie Byrd Land und Wilhelm-II.-Land, Sabrina-Küste und Edith Ronne Land, Queen Maud Range und Shepard Island, Beardmore-Gletscher und Axel-Heiberg-Gletscher. Benennungsimperialismus. Felsgesteine und Frostlandschaften heißen nach den Geldgebern der Polarforscher und Abenteurer. Oder nach ihren Monarchen. Oder nach den jeweils aktuellen Freundinnen derer, die als erste das Glück hatten, alle Orkane und Packeisfelder, alle Frosteinbrüche und Eisbergkollisionen auf dem Weg nach terra incognita zu überstehen.

Christoph Ransmayr hat das beschrieben, in seiner Rekonstruktion der österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition von 1873. Wie der Expeditionskommandant zu Lande, Oberlieutenant Julius Payer, seine halb erfrorenen und vollkommenen entkräfteten Begleiter von Hügel zu Hügel, über Berge und Gletscher zwingt, zu Fuß, einen sieben Zentner schweren Schlitten hinter sich her ziehend, um das neu entdeckte und benannte Kaiser-Franz-Josef-Land mit – meist austriakischen – Luftmarken zu versehen:

„Hier ein Cap Tegetthoff, dort der Nordenskjöld-Fjord, der Tyroler-Fjord,
da eine Hall- und eine McClintock-Insel und in der Ferne die Wüllerstorfberge und der Sonklar-Gletscher. Hohenlohe-Insel. Petermann-Land. Cap Wien. Insel Wiener Neustadt. Cap Grillparzer sagt er zu einem wüsten Felsenturm. Payer zeichnet und schreibt mit blaugefrorenen Fingern, wenn die Mannschaft apathisch im Zelt liegt, und begutachtet seine geplatzte Haut, die Zerstörungen an seinem eigenen Körper wie Frostschäden an einer Maschine, einer Versuchsperson, die nichts, nichts empfindet als Begeisterung.“

Der Rausch der Entdeckung verschlingt Menschen. Abenteurertum im Dienste der Wissenschaft – immerhin zeichnet, vermisst und kartographiert Payer seine wüste terra nova. Oder ist die wissenschaftliche Arbeit nur Maske für die Machopose, nur vorgeschobene Rechtfertigung für Eroberungszwang und Entdeckerlust?

Der letzte Wettlauf dieser Art ist der zum Südpol. Das letzte große Abenteuer in der Entdeckungsgeschichte der Erde, wie es einschlägig heißt. Er beginnt vor fast genau 100 Jahren. Im Oktober und November 1910. Hier. Auch wenn hier in antarktischen Breiten ein relativer Begriff ist. Hier im Ross-Meer, das wir mit Polarstern vor Tagen durchfahren haben. Nichts kann man sich vorstellen von den Umständen und Bedingungen dieses Abenteuers, auf unserem stahlbewehrten, eisbrechenden Forschungsschiff mit Radar und Inmarsat-Telefon. Die Eroberer des 21. Jahrhunderts bedienen sich unhörbarer und unsichtbarer Wellen: Landnahme mit Seismik, Hydrosweep und Parasound.

Damals kamen sie mit Holzschiffen. Scott auf der Terra Nova, Amundsen auf der Fram. Sie gehen an Land, am östlichen und am westlichen Ende des Ross-Schelfeises. Die Briten am McMurdo-Sund, die Norweger in der Bucht der Wale. Sie richten sich Winterquartiere ein. Sie schleppen Tonnen von Material über das Meereis. Sie unternehmen Depotreisen.

Aberwitzig ist das, was dann im nächsten antarktischen Frühjahr beginnt. Ein Wettlauf, den einer der beiden Wettläufer (Scott: jeder Zoll ein Brite) gar nicht will. Angeblich.

Auch ein clash of centuries. Hier das verdämmernde Weltreich mit seinem oberklassendurchtränkten Elitebewußtsein. Dort die junge, aufstrebende Nation, die nach ihrem Platz in der Weltgeschichte sucht. Die Briten zerlegen ein Pianola und befördern es auf der Terra Nova bis in den McMurdo-Sund. Ein Klavier. In der Antarktis. Dazu Champagner für die Weihnachts- und Silvesterfeiern. Stilbewußt bis in die erfrorenen Zehenspitzen. Die Norweger, Amundsen voran, haben bei den Eskimos gelernt, wie man Iglus baut. Und Skilaufen braucht ihnen keiner beizubringen. Den Engländern hätte man es beibringen müssen. Aber sie wollen es nicht lernen.

Die Natur: Den Briten ist sie der böse Feind, den sie bezwingen wollen. Die Norweger passen sich an die lebensfeindliche Umwelt an. Scott improvisiert. Amundsen plant kühl und professionell. Die Bilder aus Scotts Winterlager zeigen jugendliche Gesichter, die englische Mannschaft wirkt wie ein zusammengewürfelter Haufen von Collegeabsolventen aus Oxbridge. Die Norweger dagegen: harte, erfahrene, mit allen Eiswassern gewaschene Seefahrer.

Das 19. gegen das 20. Jahrhundert: Diese Schlacht war schon entschieden, bevor sie angefangen hatte, schreibt Rainer-K. Langer, der das „Duell im ewigen Eis“ nachzeichnet. Sein Buch ist eine gute Grundierung für die Tagebücher von Scott und Amundsen. Denn die erzählen ausschließlich die Heldenepen, durchtränkt von Mannesmut und Tapferkeit im Eis.

Obwohl auch Scott und Amundsen unter der Flagge der Wissenschaft segeln. Scott hat Metereologen und Biologen an Bord. Amundsens Mannschaft macht regelmäßig Wetteraufzeichnungen. Wobei sie es nicht übertreiben. Nachts fällt die Wetterbeobachtung aus, damit die Männer in Ruhe schlafen können. Das macht die Aufzeichnungen wertlos. Aber Amundsen will keine Monographie über die Temperaturentwicklung in der Antarktis verfassen. Er verfolgt ein Ziel, dem er alles andere und alle anderen unterordnet: Der Erste sein. Die Flagge in den Südpol rammen.

Diese Zeiten sind vorbei. Nun, Arved Fuchs und Reinhold Messner führen noch die Berufsbezeichnung „Abenteurer“ und loten die Grenzen dessen aus, was Menschen mit sich selbst veranstalten können, ohne dabei den Abgang zu machen. Das echte Abenteuer erleben: Heute nicht mehr als ein Versprechen aus dem TUI-Katalog für gewöhnliche Bürotiger.

Und nirgendwo scheint einem alle Abenteuerlust ferner als auf diesem datensaugenden Dampfer Polarstern, diesem sensiblen Präzisionsmessinstrument für eigentlich alles zwischen Stratosphäre und tiefster Tiefsee. Auf dem die größte Leidenschaft aller Forschenden die Genauigkeit ist. Die Wiederholbarkeit. Die methodische Sauberkeit. Die Systematik der Dokumentation.

Andererseits: Ist nicht jede Reise ins Unbekannte ein Abenteuer? Ist es nicht ein Abenteuer, auf dem Weg über den Ozean mit den tastenden Fingern des Fächerecholots einen neuen Berg zu entdecken, einen Seamount? Weniger als zehn Prozent der Ozeanböden sind erforscht und verkartet. So betrachtet, ist der Globus noch eine einzige weiße Kugel – mit vereinzelten bunten Flecken.

Ist es nicht ein Abenteuer, wenn die Polarstern einen Trog auf dem antarktischen Kontinentalschelf auslotet und kartographiert, der bislang auf keiner Seekarte zu finden war? In einer Bucht, die so unvermessen ist, dass es noch niemand für nötig befand, ihr einen Namen anzukleben? Ist es nicht hochgradig spannend, wenn die Ozeanographen plötzlich eine Warmwasserschicht entdecken, in 450 Meter Tiefe, die dort eigentlich nichts verloren hat? Gerade mal zehn, fünfzehn Meter misst sie, und aufgefallen ist sie nur, weil die Ozeanographen ihr CTD bis auf einen Meter über den Meeresboden gefahren haben. Ist es nicht ein Abenteuer, wenn in einem der Tiefseegreifer, die über die Marie Byrd Seamounts gezogen werden, plötzlich Kaltwasserkorallen auftauchen, die hier niemand vermutet und niemand je zuvor ans Licht geholt hat? Ist es nicht ein Abenteuer der Entdeckerlust, wenn bei GPS-Messungen auf einmal klar wird, dass ein Landschaftsgebilde, das man bislang für eine Halbinsel gehalten hat, in Wirklichkeit eine Insel ist? Weil die Aufwärts- und die Abwärtsbewegungen des Schelfeises, die man messen kann, nur einen Schluss zulassen: dass unter den 300 Metern Eis die Gezeiten des Ozeans auf und abwogen.

Die großen Abenteuer sind bestanden? Wenn das den entbehrungsreichen Kampf mit sich selbst und gegen die Widernisse der Natur meint, dann stimmt der Satz. Vielleicht. Aber vielleicht muss auch unsere Vorstellung vom Abenteuer mal ein wenig entromantisiert werden. Denn die Wissenschaft, die ist mit ihren Abenteuerreisen in die Welten des Nano- und des Makrokosmos noch lange nicht am Ende.

Anregend zu lesen: Christoph Ransmayr, Die Schrecken des Eises und der Finsternis, Frankfurt 1987 (Zitat S. 199/200), Rainer-K. Langner, Duell im ewigen Eis, Frankfurt, 2001 (Zitat S. 150). Dazu Robert F. Scott, Letzte Fahrt, Wiesbaden 1996, und Roald Amundsen, Die Eroberung des Südpols, Lenningen 2005.