sieben / Der doppelte Dienstag

14:53 Bordzeit.

Vor etwa 28 Stunden, also gestern vormittag,  haben wir die Datumsgrenze passiert. Kein krachender Einschnitt. Auf dem Computer, der unsere Position im Pazifik zeigt, springt die Längengradanzeige von 180 Grad E auf 180 Grad W um. Mehr nicht. Aber seitdem will der Dienstag nicht mehr aufhören. Und das wird jetzt, wenn ich das schreibe, noch elf Stunden so weitergehen. Von der Brücke kommt die Ansage: Liebe Leute, damit könnt ihr zu Hause angeben, dass der Februar für Euch in diesem Jahr 29 Tage hatte.

Bis jetzt waren wir Europa immer zwölf Stunden voraus. Ab jetzt hecheln wir den heimischen Häfen 12 Stunden hinterher. In einer Sekunde von UTC-13 zu UTC+11. Ein kleiner Schritt für uns, aber ein großer für das Leben an Bord.

Doppelter Dienstag: Wetter-Max, der Bordmeteorologe, hat seinen täglichen Wetterbericht darum als Dienstag (1) und Dienstag (2) markiert. Auch die Speisekarte für den 2. Februar hängt zweimal in den Messen. Am ersten Dienstag gibt es Kotelett mit Blumenkohl und Salzkartoffeln, am zweiten Dienstag Rindergulasch mit Klößen oder Nudeln. Für Vegetarier Kartoffelpuffer mit Apfelmus.

Der Tag, der 48 Stunden hat – der Traum eines jeden Workaholic, hier geht er in Erfüllung. Aber was macht man an Bord mit so einem geschenkten Tag, mitten auf dem Ozean? Vielen geht er unter in der Routine der Labor- und Rechnerzeiten. Wer Stundenzettel schreibt und Dienstzeiten verbucht, der flucht. Wie soll man einem deutschen Arbeitszeiterfassungscomputer klar machen, dass man am 2. Februar 2010 zwei Mal acht Stunden Dienst geschoben hat?

In der Zauberberg-Stimmung kann man die Sache mit der Datumsgrenze schon merkwürdig finden. Tage blasen sich auf oder lösen sich in Luft auf, je nachdem, ob man sich von Ost nach West oder umgekehrt über den Längengrad bewegt. Ein hauchdünner Strich, ein luftiges Nichts in den Weiten des Pazifik – und in diesem Strich können Tage verschwinden, dieser Strich kann Tage aus dem Nichts auf die Wellen zaubern. Die Zeit sei exakt? Lachhaft, junger Freund, die Zeit ist atmendes Organ, ist elastisch und flexibel, dehnbar und schrumpfend. Dass sie einem rhythmisch regelmäßig unterteilten Faden gleiche, dass sie die immergleiche Taktung vorgebe, das ist doch bloße Konvention. Die Zeit ist Herzschlag, nicht Metronom.

Zurück zur Wirklichkeit. In Wirklichkeit ist natürlich keiner dieser aufgeblasenen oder zusammengeschnurrten Tage wirklich. In Wirklichkeit ist alles nur Simulation. Wer das und die Sache mit der Datumsgrenze verstehen will oder verstehen muss, der lese hier nach. Und erinnere sich daran, dass das Überqueren der Datumsgrenze Glück bringen kann: ohne sie, ohne den durch sie gewonnenen Tag, hätte Phileas Fogg seine Wette nie und nimmer gewinnen können. Und die Reise um die Welt hätte nicht 80, sondern 81 Tage gedauert. Oder muss das jetzt heißen: die Reise hätte nicht 79, sondern wirklich 80 Tage gedauert? Ich werde es nie verstehen …