neunundzwanzig / Möhrenzeit

28.03.2010 09:23 Bordzeit

Ich habe heute von Salat geträumt, sagt Laura beim Frühstück. Mit Tomaten. Also, nicht das Frühstück hatte die Tomaten. Aber der Traum. Das beschreibt das Problem.

Wenn Träume dieser Art in den Tag hinein flüstern und als Gesprächsstoff über den Tischen in der Messe kreisen, dann weiß der erfahrene Polarsternfahrer zweierlei: Die Hälfte der Reise ist rum. Und: Die Möhrenzeit ist da.

Erst gingen die Pflaumen. Saftige, runde, rotfleischige Pflaumen aus Neuseeland. Dann verschwanden die kleinen, grünen Weintrauben. Die frischen, gehackten Kräuter zum Frühstück: Eines Morgens waren sie weg. Ohne sich zu verabschieden. Auf und davon die Tomaten. Kleine, rotwangige, leuchtende Cocktailtomaten. Mit Biss. Mit Aroma. Diesem unvergleichlich säuerlichen, geschmacksreichen … Schluss! Zieh ab, fiese Sinnestäuschung! Als nächstes gingen die Gurken von Bord. Ziemlich lange hielten die rotgrüngelben Paprikastreifen durch. Dann waren auch sie gone with the waves. Die Salatblätter hatten schon Wochen zuvor aufgegeben.

Geblieben sind: Möhren.

Möhren, Möhren, Möhren.

Möhrenmöhrenmöhrenmöhren. Jeden Abend funkeln sie blassorange und drohend auf dem kalten Büffet. Wer in eine dieser Baumvorstufen beißt, sorgt noch am Nachbartisch für messbare seismische Erschütterungen. Eigentlich müssten die süßen kleinen Möhrchen Backenbrecher heißen, nicht so ein harmloser Steinzerstäuber. Jedes Krachen der Kauwerkzeuge erinnert an eine vor kurzem ausgestorbene Spezies: Frische Lebensmittel. Ja sagt Petra dann, die Chefstewardess, das ist die Möhrenzeit. Und lächelt fein.

Ach ja, Äpfel haben wir auch noch. Äpfel, aus deren knallgrün spiegelglatter Schale ein leiser Soundtrack diffundiert: Willkommen zur Werksführung … Ein Produkt der chemischen Industrie … … brizzel … Unsere naturidentischen Aromastoffe … brizzel … seit vielen Jahren … knarz …  geschmacksbefreit … (Rest unhörbar)

Der Exodus der Frische kommt schleichend. Er ist nicht aufzuhalten. Sauerkonserven haben die Macht am Abendbüffet übernommen. Eingelegte Paprika und Sauerkraut, Salzgurken und Senfgurken. Oh, ein Häppchen Gewürzgurken noch? Mixed Pickles. Silberzwiebeln, kleine Maiskölbchen. Peperoni. Pilze. Rote Bete. Marinierte Heringe. Offenbar kann man fast alles in Essig tunken. Konservieren heißt, haltbar machen, ach ja.

Wie überall, wo der Mangel herrscht, blühen auch hier die Gerüchte. Und die Geschichten von den noch schlimmeren Zeiten. Damals, diese Fahrt, als es im Shop keine Schokolade mehr gab, weiß du noch? Die nächtlichen Exkursionen zum Nutellaglas in Messe zwei? Erwachsene Menschen, die mit einem Löffel in eben jenem Glas ertappt wurden und verschämt etwas von akuter Unterzuckerung murmelten?

Petra, die Herrscherin über alle Shops an Bord (zu Ostzeiten hieß so etwas Verkaufseinrichtung. Das trifft es auch besser), weiß von Hamsterkäufen zu berichten, als nur das Gerücht aufkam, das Bier sei bald alle.

Sie selbst (seit 1996 fährt sie auf der Polarstern, zur See aber schon ein paar Jahre länger) ist eine Art Messinstrument, ein Seismometer für gesellschaftliche Verschiebungen, auch wenn die selten mit der Gewalt von Erdbeben daher kommen. Bier, sagt sie und fährt mit dem Zeigefinger über die säuberlich notierten grünen, roten und blauen Zahlenkolonnen in ihrem Verkaufsbuch – eine lückenlose Statistik der Trinksitten auf der Polarstern. Bier, Antarktisreise 1996, in 16 Wochen haben wir 600 Kisten und 83 Fässer Bier verbraucht. Und auf dieser Fahrt? Blättern, Suchen. Wieder wandert der Finger über die ordentlich ausgerichteten Zahlen. 660 Kisten in 22 Wochen, dazu 56 Fässer. Nur 56 Fässer, sagt sie. Und dass sie vorher nie weiß, wieviel Bier sie brauchen wird. Das hängt auch von der Art der Fahrt ab.

Aber bevor wir jetzt über die unterschiedlichen Trinksitten von Geologen, Glaziologen und Biologinnen zu spekulieren beginnen, wenden wir uns lieber dem nüchternen Wasser zu. Mineralwasser, Stilles Wasser, Sprudel: 1996 haben sie 281 Kisten verkauft, oder 2529 Liter. Auf dieser Reise waren es bis Ende März 675 Kisten oder 6075 Liter. Fast verdreifacht hat sich der Mineralwasserverbrauch auf der Polarstern im Vergleich zu 1996. Ja, sagt Petra, damals sind auch noch nicht alle mit der Wasserflasche unterm Arm ins Büro gerannt.

Gut beobachtet. Der Bierkonsum stagniert oder geht leicht zurück, der Wasserverbrauch steigt und steigt: Darin ist unser Polarfahrerdorf ein genaues Ebenbild der Welt da draußen.

Kleine Anmerkung zur Verdeutlichung: Wenn Petra von Reise spricht, dann meint sie nicht die Fahrt, die wir am 29. Januar in Wellington begonnen haben. Das ist ja schon der dritte Abschnitt von ANT XXVI, was der offizielle Titel der Expedition ist. Antarktisreise Nummer 26 der Polarstern. Unser Abschnitt heißt demzufolge ANT XXVI/3. Die Reise, die richtige, die ganze Reise hat am 16. Oktober 2009 in Bremerhaven begonnen und wird dort wieder enden, am 10 Mai 2010. Nur mit dieser Reise rechnet sie.

Petra liebt es gar nicht, wenn ihre Vorräte knapp werden. Wenn etwas ausgeht, wie auf dieser Reise der Rotwein. Schon vor Wochen hat sie die letzten Flaschen verkauft. Finito bis Punta, steht auf der Preisliste vor der Verkaufseinrichtung. Das ist ihr noch nie passiert. Auf Kammer gehortete Rotweine werden hoch gehandelt, entwickeln sich zur Zweitwährung. Petra leidet. Den Leuten immer sagen zu müssen: Gibt‘s nicht mehr.

Erinnert sie an die Ham-wa-nich-Kultur des Ostens.

Als nächstes könnten die Schokoladevorräte abschmelzen. Schokolade: Heller, schwarzdunkler, gefüllter, getrüffelter, mit Nüssen versetzter, süßer Glückshormonspender in antarktischer Nacht und Kälte. Alles weg. Mit tausend Tafeln sind sie in Bremerhaven gestartet, geblieben sind ein paar Restbestände. Sorte Spekulatius. Und in Punta kann sie nichts nachkaufen. Petra leidet.

Matthias leidet nicht. Er managt. Matthias ist Koch, Herrscher über die Gemüselast und die Fleischlast und alle anderen Lasten, aus denen Tag für Tag, Abend für Abend all das hervorquillt, was die 96 Mitfahrer verspeisen. Last heißt es nicht, weil die drei aus der Kombüse täglich tonnenschwere Kisten und halbe Schweine buckeln müssen. Last ist ein Seemannswort für  jede Art von Vorratskammer. Wenn Du in die Gemüselast gehst, bring doch bitte die Kiste mit den Möhren rauf. So reden sie in der Kombüse.

Doch, ein kleines bisschen leidet Matthias auch. Zehn-Wochen-Reisen sind ein Graul, sagt er, und der Graul klingt aus seinem Mund wie das Nachtgespenst in einem isländischen Schauermärchen. Frisch kann man Lebensmittel vier Wochen halten, einige auch fünf. Bananen halten längst nicht so lange. Zehn, höchstens zwölf Tage. Dann ist es vorbei. Dann fangen die Kunststücke mit den Mohrrüben an, sagt er, grinst und streicht über seinen rasierten Schädel. Zu Fahrtbeginn war die Gemüselast voll bis unter die Decke, sagt er noch. Und was steht da jetzt noch drin? Ne Kiste Äppel und 20 Zitronen.

Am Anfang viel geben, das ist eine seiner Strategien. Alles Frische raushauen, damit keine Mangelerscheinungen auftreten. Die Leute fürs Essen begeistern durch die Art der Präsentation. Was gut aussieht, wird gern gegessen. Noch wichtiger aber: ein kluges Vorratsmanagement. Jeden Abend durch die Lasten streifen und gucken: Was muss raus? Was hält noch ein paar Tage? Den Überblick behalten.

Wenn man Matthias zuhört, dann wird Kochen zum Rechenkunststück. Er weiß, wieviel Päckchen Kaffee noch da sind und wieviel Trockenhefe. Und er achtet darauf, dass im Brötchenteig nicht zu viel Hefe verschwindet (60 Gramm pro Mischung, nicht mehr), sonst ist es irgendwann vorbei mit den frischen Brötchen. Er verteilt immer die gleiche Anzahl von Kaffeepäckchen über die Decks, 24. Und beobachtet dann, wie lange der Vorrat reicht. In einer Woche fünf Tage, in einer anderen ist der Kaffee erst nach sieben Tagen alle. Er zählt die Schnitzelscheiben und die Koteletts, wenn er sie vom Strang herunterschneidet. Er weiß, dass gegen Fahrtende mehr Ketchup verbraucht wird. Das Angebot ist nicht mehr so reichhaltig, sagt er, dann machen sich die jungen Leute Käsebrötchen mit Ketchup und solche Sachen.

1200 Liter Milch gehen weg auf einer Fahrt, eine Tonne Kartoffeln, 120 Flaschen Ketchup, 200 Kilo Pommes. Pro Person rund 240 Gramm Fleisch, aber das ist eine Milchmädchenrechnung, denn da sind noch die Vegetarier drin. Die eher in Kreisen der Wissenschaft zu finden sind. Die Mannschaft liebt es deftig. Wenn Mario, der Kochsmaat mit dem Suppenhändchen, einen Reissalat fürs Abendbüffet anrichtet, dann weiß Matthias schon: In Messe zwei, bei den Wissenschaftlern, wird die Schüssel leer. In Messe eins wird sie wahrscheinlich unberührt zurück kommen. Naja, vielleicht fehlen ein, zwei Löffelchen.

Alles das: Die ganze Verpflegung, die Vielfalt am Morgen und bei den abendlichen Büffets, zwei Grillabende mit Straußensteak und Springbockkeule sowie die Knabbersachen fürs Zillertal inklusive, dazu Kaffee und Tee in den Messen, von denen jeder trinken kann, soviel er will – alles das schaffen die Köche für einen Verpflegungssatz von 6 Euro 50, pro Person, pro Tag. Respekt.

Letzte Nachricht von der Frischefront: Die Möhren sind jetzt auch weg. Wird Zeit, dass wir ankommen.

Aber keine Angst, liebe Angehörige. Schickt keine Care-Pakete. Die landen sowieso nur auf der Pinguinscholle. Niemand droht zu verhungern. Wir werden ausgezeichnet versorgt. Akuter Skorbut ist auch noch nicht beobachtet worden.

Wobei … Wenn ihr den Heimkehrenden etwas Gutes tun wollt bei der Rückkehr: Vielleicht könntet ihr am Flughafen stehen und mit einem winzigen, einem einzigen, einem durch und durch grünen, einem frischen Salatblatt winken?