elf / Die Rache der Physiklehrer

16:30 Bordzeit, 68 Grad Süd

Diese Reise ist die Rache meiner Physiklehrer. Die sitzen jetzt wahrscheinlich kichernd im ewigen Lehrerzimmer und beobachten mit hoch auflösenden Präzisionsferngläsern, wie ich im Urwald der Messgrößen und der Fachkürzel umherirre.

Unsere Fahrtgenossen aus den exakten Wissenschaften jagen Daten mit CTD‘s und O-Be-Essen. Profile werden unversehens zu Horizonten. 600 Nano Tesla liefern sich in meinen Gehirnwindungen wilde Verfolgungsjagden mit Sauerstoffisotopen verschiedener Schwere, unterstützt vom Fächerecholot. Der Streamer, eine kilometerlange, gelbe Schlange, schnappt mit seinen 240 Hydrophonen nach mir. Als Nebenfigur bricht der Brechungskoeffizient aus der Laborkulisse. Hilfe! Die einzige wissenschaftliche Beobachtung, die ich zu einhundert Prozent verifizieren kann, ist die vom Rauschen. Bei den Geophysikern rauscht es in den Daten. Mir rauscht es im Kopf.

Beim Mittagessen schwärmt ein Geologe zwei Geophysikern vor, wie spektakulär der in der Nacht mit dem Schwerelot gezogene Kern sei. 22
Meter Sediment, damit können sie  200.000, vielleicht aber auch 800.000 Jahre zurück schauen, bis ins tiefste Pleistozän. Erdgeschichte zwischen Spinatsuppe mit Schafskäse und Kasselerbraten. Und einmalige Foraminiferen haben sie gefunden im Sediment, mit denen können sie die Kerne präzise in der tiefsten Vergangenheit verorten. Denn wegen der unterschiedlichen Dichte der Sauerstoffisotope sind die kalkhaltigen Schalen sehr genau den Warm- und den Kaltzeiten zuzuordnen. Klar doch, ich sage nur O16 und O18. Fo-ra-mi-ni-fe-ren … ein Wort mit sechs Silben. Das auszusprechend genügt, um in meinen Synapsen einen dramatischen Abfall der Sauerstoffisotope auszulösen.

Im roten Salon, zur Coffeetime, skizziert Mike Schröder, der Ozeanograph, mal kurz die Wassersäule im südlichen Ozean und erläutert den Zusammenhang von Salzgehalt und Schwere des Wassers. Und was es mit dem antarktischen Tiefenwasser auf sich hat. Und wo das Salz bleibt, wenn das Wasser vereist. Und wie aufnahmefähig ihr CTD ist. Das CTD, ein wahres Wunderwesen, so viel habe ich immerhin verstanden: Das registriert nämlich, wenn es erstmal in den ozeanischen Fluten gelandet ist, Meter für Meter conductivity, temperature und depth des Wassers. CTD eben, und das bis in 6000 Meter Tiefe, wenn es sein muss. Conductivity, übrigens, ist die Leitfähigkeit des Wassers. Was auch sonst. Und die ist wiederum abhängig vom Salzgehalt. Und der wiederum … nein, davon später.

Der laienhafte Verstand, vulgo meiner, mag vielleicht denken: Wasser ist doch Wasser, haben wir eh‘ genug um uns herum. Seit zehn Tagen nichts als Wasser, immer die gleiche Brühe. Aber weit gefehlt. Schauen wir uns doch mal die Wassersäule an. Ja, die gibt es wirklich … Nach zehn Tagen Wasser in der Horizontalen mag man es kaum glauben, aber es gibt auch Wasser in der Vertikalen, eben in der Wassersäule, und die misst gerade 4186 Meter unter unserem Kiel. Jedenfalls ist diese Wassersäule ein hoch differenziertes Gebilde. Selbst kleinste Abweichungen von Temperatur und Salzgehalt können für dramatische Bewegungen sorgen. Für unterseeische Strömungen, in denen das Frischwasser von der Antarktis bis nach Grönland reist. Eine Wasserautobahn in fünftausend Meter Tiefe. Meine grauen Zellen fahren Schneckentempo.

Brian, der Geophysiker aus Neuseeland, zeigt während der Abendbesprechung aller Wissenschaftler (jeden Tag um 19 Uhr 30 im Kinosaal) frischgewonnene Seismikprofile aus dem neuseeländischen Kontinentalschelf. Seismische Profile, das sind lange Reihen filigraner Linien, die das Sediment unter dem Meeresboden Schicht für Schicht abbilden. Zwanzig, dreißig, sechzig, zweihundert Linien übereinandergelagert, mit Wellen und Erhebungen. Eine Art aufgeschnittener Baumkuchen der Tiefsee.

Regelmäßig, das zeigt Brian an diesem Profil, unterbrechen kleine Tröge oder Trichter den Rhythmus der neuseeländischen Seismiklinien. Pockmarks, sagt Brian. Pockmarks. Pockennarben im Ozeanboden, mit einem Durchmesser von 5 Kilometern. Rätsel der Wissenschaft.

Aber jeder Schrecken hat sein Schönes, auch der des Messgrößenurwaldes: seine Versteher erklären ihn mir. Nicht nur einmal, nein: Wenn es Not tut, immer wieder. Mit Engelsgeduld und jeder Art von Vereinfachung, zu der ein Wissenschaftlerherz sich überhaupt nur verstehen kann. Der ozeanische Mike hat ein kleines ozeanographisches Colloquium angekündigt. Mehrere  Geologen haben sich anerboten, mich in die Geheimnisse des Paläoklimas und der Sedimentanalyse einzuweisen. Für die Jungs vom Fernsehen gibt es demnächst Schnellkurse in Geodäsie und Bathymetrie. Wir können in jedes Labor gehen und gucken und fragen – irgendjemand hat immer eine Antwort.

Und wir haben noch acht Wochen Reisezeit. Warte nur, Physiklehrerbande: Ich werde alles verstehen. Ich werde mit Messgrößen jonglieren, bis euch die Ferngläser beschlagen. Ich werde kalt lächelnd magnetische Anomalien analysieren. Ich werde Profile lesen können und Sedimente von der Platte putzen. Jawohl.

Und was ist jetzt ein O-BE-ESS? Setzen, Pfeiffer! Das kriegen wir später.