einundzwanzig / Willkommen im Soziotop 24.2.10

24. Februar 2010

22:45 Bordzeit

Vor einigen Tagen hatten wir unseren ersten Heliflug. Nichts Großes, nur ein paar Runden rund um die Polarstern. Das Schiff von außen, von oben, im Wasser verfolgen, zwischen den Eisschollen pflügend. Einen Anflug von weiter weg, ein bisschen parallell auf gleicher Höhe fliegen. Die Tür auf Guidos Seite offen. Mit etwas Glück würden wir drehen können, wie der Bug auf eine der wenigen Schollen aufrutscht und sie zerbröselt, als sei es Knäckebrot.

Als wir uns hochschraubten vom Helideck, ordentlich gerüttelt von kleineren Böen, und das Schiff kleiner und kleiner werden sahen, da wurde mir auf einmal bewußt, wie schnell das hier unsere Welt geworden war. Der Kosmos, auf 120 mal 26 Metern. Ein Soziotop, in doppelwandige Stahlplatten gefasst. Die Kammern, die Messe zwei und der Rote Salon. Lange Gänge. Labore und Werkstätten, Sauna, Gym und Schwimmbecken. Die Wäscherei, die Brücke. Messe eins für die Mannschaft, angeschlossen der local pub, das Zillertal. Das Arbeitsdeck, darüber der Windenleitstand.

[nggallery id=9]

Eine Woche nur, und der Soundtrack ist so vertraut, dass man ihn kaum mehr wahrnimmt. Das ewige Surren der Klimaanlage. Man hört es erst, wenn sie aussetzt für ein paar Minuten. Das Knacken und Schütteln, das Zittern der Bücherregale im Blauen Salon, meinem liebsten Schreibort. So seemännisch gediegen, mit etwa vier ‚ie‘. Der metallische Schlag, mit dem die Türen zu den Treppenhäusern zufallen. Kräftiges Schmack, heller Ausklang. Das Seufzen des alten Aufzugs, bevor er anhält. Das Dingdong, mit dem die Brücke eine Durchsage ankündigt. Das Wummern und Rumpeln im Stahl, wenn die Nautiker mit dem Bugstrahlruder manövrieren. Frequenzen, die direkt den Bauch treffen. Der Rumms, wenn der Bug mal eine Eisscholle erwischt. Draußen das Wellenklatschen, untermischt mit dem Dieseln der Maschinen. Der Wind pfeift und heult, schlägt die Leinen auf die Fahnenmasten, klackklackklackklackklack.

Eine Woche nur, und das körpereigene Navi hat die Landkarte der Gänge und Flure, der Treppenhäuser und Verbindungstüren verinnerlicht. Kein Herumirren mehr. Eine Treppe runter, rechte Tür, wieder links. Teller klappern, die Stewardessen schnattern: Messe zwei, Essen fassen. Auf dem D-Deck, links rum, an Messe eins vorbei, immer weiter den Gang hinunter, links eine unscheinbare Tür: Der Weg zum Windenleitstand, wenn man bei Seegang nicht nass werden will. Grün lackierte Böden, warnorange die Türen und Schotten, weiß die Wände: Wir sind auf dem F-Deck. Ein Heringsdorf-Aufkleber an der Kammertür im gelben Gang.

Mit dem Aufzug runter aufs Arbeitsdeck. Direkt rechts sitzt Ilias hinter seinen Monitoren, der Sysman, der jedes Rechnerproblem löst. Hinter sich wandfüllend eine Werder-Flagge, vor sich eine immer gefüllte Gummibärchenschüssel (ja, Schüssel. Nicht: Schale. Schüssel). Schmalseite links geht es zur Bathymetrie, rechts rum und wieder links zum Nasslabor. Auf dem F-Deck verkauft Petra Wasser, Säfte, Bier und Wein, Schokolade, Zigaretten und Knabberkram. Immer abends, 19 Uhr bis 19 Uhr 15.

Und, der schönste aller Wege: Nach der Sauna an der Maschinenwerkstatt vorbei, rechts in den anthrazitgrau gestrichenen Aufzug mit den gelbschwarzen Warnstreifen am Eingang. Zwei Decks höher im Helihangar aussteigen, an den Helis vorbeischlängeln. Den Hebel runterdrücken, und wir stehen draußen auf dem Helideck. Ein Handtuch um die Hüfte, Eisberge rings ums Schiff, Pinguine auf Eisschollen treiben vorbei. Mit viel Glück noch ein Sonnenuntergang. Kneift mich, Leute!

Und wie schnell mir Personen vertraut werden, die ich wohl nie getroffen hätte in der anderen Welt da draußen. Die Lauten und die Vorsichtigen, die Groben und die Stillen, die Freundlichen und die Verschlossenen, die Öffentlichen und die Versteckten. Die 94 Menschen, mit denen wir hier zusammengesperrt sind. Ein ganz normales Gattungssample, verdichtet durch die Enge des Raumes und die Länge der Zeit.

Zwei nahezu gleich große Stämme teilen sich die Herrschaft über die Polarstern: 44 Besatzungsmitglieder und 52 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen. Die Stämme leben in je eigenen Welten und begegnen sich mit freundlicher, teils spöttischer Skepsis. Wissis heißen die scientists im Besatzungsjargon, öfter auch Die Fusseligen. Was sich sowohl auf das gelegentlich rastagelockte Erscheinungsbild wie auf eine gewisse, manchmal angeblich zu beobachtende Unorganisiertheit beziehen kann.

Beide Stämme zerfallen in zahlreiche Subclans: Der Bootsmann und die Matrosen bilden die Decksgang. Die fahren die Kräne und Winden, zerren an Tauen und Kabeln, hieven Lanzen und Lote, arbeiten präzise und zuverlässig wie ein Schweizer Uhrwerk und haben immer einen Spruch im Colt. Rauh, aber herzlich. Der Satz wird mir wieder fünf Jahre Klischeeverbüßungsstrafe einbringen, aber: Er trifft‘s. Leider.

Dann die Maschine, deren unterirdische Pfleger, Hüter und Schmierer man auch nach sechs Wochen an Bord noch nicht getroffen haben muss. Wenn man‘s nicht drauf anlegt. Die Offiziere, die den Dampfer mit einem Joystick bewegen, die den Kurs auf der Seekarte abzirkeln und mit Bleistift und Lineal eintragen. Kein Eisberg und schon gar kein Geologe kann sie aus der Ruhe bringen. Die Drei von der Kochstelle: Ein Bäcker (backt die knusprigsten Brötchen der südlichen Hemisphäre, und am Wochenende herrliches, duftendes dunkles Brot), ein Kochsmaat, der Koch. Die Stewardessen. Und die, die mir jetzt böse sein werden, weil ich sie vergessen habe. Aber keine Sorge: Ihr kommt auch noch dran.

Ein selbstgenügsames System. Was auch immer kaputt geht – sie machen es wieder heil. Kleiner Unfall mit der Magnetfeldmessrakete bei der Landung auf dem Helideck? Die Maschinenwerkstatt baut und spachtelt ein neues Leitwerk, mal eben so. An unserem Stativ ist die Feststellrosette der Hinterkamerabedienung locker? Die Werkstatt fräst drei neue Schrauben, passgenau. Die würden auch ein U-Boot bauen, wenn‘s der Wissenschaft dient.

Auch in der Wissenschaft halten die Clans zusammen, meist entlang der Grenzen ihrer Fachgebiete. Die Geologen, Abteilung marine Sedimente: Auch eine Gang, eine Frau und neun Männer, viele kräftige Jungs darunter. Immer einen Schatten Pleistozän unter den Fingernägeln. Belästige sie nie mit Jahrtausenden. Sie messen Zeit in Hunderttausenderschritten. Ihre Arbeitskleidung: der Blaumann.

Beobachte sie bei ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Dann leuchtet in den Sedimenten der Erinnerung das Bild des eigenen Glücks im Sandkasten auf. Was sie aus den Tiefen des Meeresbodens ans Licht holen, Matschepampe, Modder, Schlamm – sie messen und durchleuchten es, sie stecken die Claims mit Zahnstochern ab, sie spachteln und zerlegen die zähe Masse mit Messerchen und Spritzenröhrchen, um die Portiönchen dann in durchsichtige Plastiktütchen abzufüllen, die alle sorgfältig beschriftet sind. Willkommen in der Paläopatisserie. Von den anderen werden sie gerne als Schlammwühler befrozzelt, die Geologen.

Die Rache heißt: Krawattengeologen. Das Etikett, das sie den Geophysikern anhaften. Was natürlich Unsinn ist, denn an Bord ist noch nie jemand mit einer Krawatte gesichtet worden. In den Sechzigern aber, da hätten sie wahrscheinlich Krawatten getragen, bleistiftdünn und einfarbig, zu weißen Hemden. Und hätten, hornbebrillt, mit hochgekrempelten Ärmeln auf Rechner in der Größe von Zweifamilienhäusern gestarrt. Und auf unleserliche Lochstreifen. Die Theoretiker, die Intellektuellen, die Systemmodellierer und Datensatzbebrüter. Geophysiker eben.

Dialog zwischen einer Geologin und einem Geophysiker. Sie: Was geht über einen richtig schönen Granit aus dem Gelände? Er: Pfffft. Was ist ein Stein? Ein Datensatz. Die Summe physikalischer Gesetze, sonst nichts. Klingt zu literarisch, um wahr zu sein? Ich habe es mir nicht ausgedacht.

Die Geophysiker sind Die Macht an Bord. 2 Frauen, 11 Männer – und sie herrschen über mehr als die Hälfte des wissenschaftlichen Programms. Vor allem machen sie: Seismik. Mit Luftpulsern im Wasser schießen, dass der Boden bebt, und die zurückkehrenden Schallwellen mit Hydrophonen auffangen. Dazu muss das Schiff gleichmäßig 5 Knoten Fahrt machen. Was bedeutet, dass alle, die für ihre Untersuchungen ein stehendes Schiff brauchen, warten müssen. Auf das Ende des seismischen Profils. Dem bestimmt ein weiteres seismisches Profil folgen wird.

Wenn die Krawattengeologen Die Macht sind, dann sind die Ozeanographen Die opponierende Kraft. Fünf Leute stark, eine Frau und vier Männer, fühlen sie der Wassersäule den Puls. Holen Temperatur und Salzgehalt aus 600 und aus 3000 Metern Tiefe, bis aufs Tausendstel genau. Suchen nach Strömungen, bringen antarktisches Bodenwasser und oberflächennahes Frischwasser in langen, grauen Plastikrohren an die Oberfläche. Beides  lassen sie dann generös über Biologen, Biogeochemikerinnen und Paläoozeanographen sprudeln. Denn die sind auch mit an Bord.

Ozeanographen brauchen immer das Gegenteil von dem, was Geophysiker machen: Wollen Station, wenn das Schiff fährt. Wollen ins Eis, wenn wir einen Bogen ums Eis machen. Im Frozzeldiskurs heißen sie Planschbeckenphysiker. Was schon ziemlich frech ist als Bezeichnung für den Adel unter den wässrigen Wissenschaften. Schlimmer wäre nur: Limnologe. Gewässerkundler, wie untief. Fischt im Flachen, äußerst uncool. Etwa so, als wenn ich zu Guido Du Postkartenfotograf sagen würde.

Dann die Landgeologen, die Steineklopfer, die auf dieser Reise den 16. Dan in der zenbuddhistischen Kunst des Wartens erlangt haben. Und tiefe Kenntnis von verästelten Entscheidungsbäumen. Bekommen wir einen Hubschrauber? Und wenn ja: Wie wird das Wetter? Und wenn gut, zumindest am Schiff: Kommen wir nahe genug an Land? Und wenn ja: Wie genau kann man die Wolken auf dem Wetterradar erkennen? Und wenn gut: Hängen sie nicht zu tief? Und wenn nein: Kann der Pilot über Eis fliegen, erkennt er genug Kontraste? Und wenn ja: Wo sind die sites für unsere Proben? Und wenn hier: Können wir da landen? Und wenn ja: Wieviel Zeit haben wir? Kommt da nicht schon wieder eine Wolkenwand? Und wenn ja: Hammer und Säge einsammeln und zurückfliegen. Oder nicht landen können und zurückfliegen. Oder vor der Wolkenwand abbiegen und zurückfliegen. In jedem Fall: Zurückfliegen. Kein Material bekommen. Ooooooooommmmmmm.

Geduld ist die Pforte der Freude, pflegt Mirko dann zu sagen, der Geodät aus Dresden mit der grau melierten Stoppelfrisur. Und erntet dafür ungehaltene Blicke.

Willkommen im Soziotop. Denn natürlich hocken die Clans nicht in ihren Iglus. Natürlich tauschen sie Ergebnisse aus, befreunden sich untereinander, kommentieren Daten, schmieden Pläne für andere Expeditionen. Natürlich ist die Polarstern auch ein Brutplatz für neue Projekte. Eine Messe für Dissertationsthemen. Ein Ort, an dem frische DFG-Anträge ersonnen und verabredet werden. Ein ganz normales Gattungssample, diese Reise.

Natürlich haben wir auch Konflikte an Bord. Interessengegensätze. Die einen wollen immer fahren und neue Weltrekorde in seismischen Profilen aufstellen. Die anderen wollen Stationen machen. Die einen wollen auf dem Wasser dampfen, die anderen wollen an Land. Aber das bleibt alles subglazial, entlädt sich nur gelegentlich in den besagten Frozzeleien. Oder in sinistren piratischen Verschwörungsplänen, wie man alle Wale und Robben der Welt ganz schnell an den 72. Breitengrad Süd umleiten könnte. Denn wenn Wale in Sicht sind, dann müssen die Airguns abgeschaltet werden. No seismics, please.

Große Kräche, tiefe Feindschaften, wissenschaftliche Grundsatzdiskurse: Gibt es nicht. Auf dieser Reise jedenfalls. Das soll auch schon anders gewesen sein. Aber dafür sind hier alle zu entspannt, zu moderat, zu erfahren auch in Polarreisen. Und so waltet der kategorische Imperativ der christlichen Seefahrt über allem: Handele stets so, dass du auch morgen noch deinen Reisegenossen aufrecht in die Augen schauen kannst.

Unser erster Hubschrauberflug, übrigens, war nicht besonders spektakulär. Gelassen hat die Polarstern eine Scholle zerbröselt. Mehr Eis war nicht in Sicht – auf dem Wasser. Trotzdem mussten wir nach vierzehn Minuten zurück zum Schiff. Hans, der Pilot, hatte Eis gesichtet. Auf der Plexiglaskuppelscheibe seines Helikopters. Und das mögen sie gar nicht, die Piloten.

Es reicht nicht, Eis zu sehen. Es muss auch das richtige Eis an der richtigen Stelle sein. Wir warten auf den nächsten Flug. Geduld ist die Pforte der Freude.