einunddreißig / Es ist vorbei. Es geht weiter.

25.04.2010
07:23 MESZ.
Bordzeit: minus 4 Stunden.

Es ist vorbei. Es geht weiter.

Es ist vorbei. Vor zwei Wochen sind wir gelandet, an einem trüben und kühlen Morgen. Auf einmal lag Punta Arenas an Steuerbord, das Nest am Ende der Welt. Acht Uhr morgens: Die Sonne schickte zitronengelbe Streifen durch dunkelblaue Wolken. Neun Uhr morgens: Festmachen. Auf einmal tragen alle Offiziere Uniformen. Am Kai der ganz normale Betrieb eines ganz normalen Hafens. Eines kleinen Hafens. Das Ueckermünde der Südhalbkugel. Gabelstapler, Männer mit orangefarbenen Helmen. Ölverschmiert speckige Schutzkleidung, trübe Reflektoren. Spanische Satzfetzen.

Es ist vorbei. Vorbei das Schaukeln. Vorbei das Vibrieren in den Wänden, das Tuckern und Rütteln der Maschine. Kein Bugstrahlruder lässt das Schiff mehr zittern. Vorbei das Wasser mit Variationen, eingeklappt die blaugraugrüne Farbkarte, mit der uns der Ozean neun Wochen lang überrascht hat, im Stundentakt, im Rhythmus der Tage. Vorbei das Gefühl der Energie, mit der das Schiff das Wasser zerteilt hat. Endlose Bewegung, klatschende Gischt und peitschende Welle.

Das Ankommen dauert an. Noch hat sich das Zeitgefühl nicht eingetaktet. Ich reagiere langsamer, bin mehr in mir unterwegs als draußen in der Welt. Fast zwei Wochen lang keine Nachrichten gehört. SPIEGEL ONLINE, Twitterfacebook und das alles erst vor ein paar Tagen wieder angefasst. Ich soll Seminare vorbereiten. Was sind gleich noch mal Seminare? Geblieben ist: ein anderes Körpergefühl, eine andere Aufmerksamkeit für Bewegungen. Im Flugzeug nach Deutschland, im Auto, im Zug. Sehnsucht nach Unterwegs-Sein.

Wie war‘s? Schöne Frage. Fragen Sie mich in drei Jahren noch mal.

Es ist vorbei. Es geht weiter.

Neulich in Hamburg haben wir eine Ausstellung mit Fotos von Herbert Ponting besucht, dem Fotografen der Scott-Expedition von 1910-1912. Traumhaft schöne Schwarzweiß-Fotografien, Platin-Drucke nach den originalen Glasnegativen, detailreich komponierte Landschaften, auf Metergröße aufgezogen, sündhaft teuer. Ein Bild war dabei, das mich ganz innen angefasst hat: Blick über den Bug auf die See, wogend bewegt mit Schaumkronen, Panoramahorizont. Auf einmal war alles wieder da.

Was bleibt? Was werde ich vermissen? Wen und was mir auf keinen Fall zurückwünschen? Keine Ahnung. Die Erinnerung entwickelt den Film, den das Leben belichtet. Hat Max Frisch geschrieben, sinngemäß, ich finde die Stelle jetzt grad nicht. Irgendwo in den Tagebüchern. 1966-1971, glaube ich. Schöner Satz. Noch zwanzig Jahre Digitalfotografie, dann versteht den auch keiner mehr.

Die Idee, dass zwischen einem Erlebnis und der Gedächtnisspur, dem inneren Bild dieses Erlebnisses mehr Zeit verstreichen muss als die Millisekunde, in der die Lamellen der Kamera den Vorhang aufziehen und den Lichtblitz einlassen. Die Idee, dass die Sensoren, die Messfühler, die Verarbeitungsinstrumente unseres Bewusstseins nicht Schritt halten mit der Reisegeschwindigkeit eines Airbus A 340.

Das würde ich jetzt gerne bei Christoph Ransmayr nachlesen. Die Schrecken des Eises und der Finsternis. Seine ganze Einleitung hat er der Ungleichzeitigkeit gewidmet, die sich beim Reisen zwischen Körper und Seele schiebt. Geht aber auch nicht. Der Ransmayr ist noch an Bord. Er hat, so klug wie angemessen, die Schiffspassage gewählt und reist zusammen mit unserer Polarforscherbibliothek in einem Pappkarton auf der Polarstern nach Bremerhaven. Weil wir keine Lust und keinen Platz mehr hatten, das auch noch in die Koffer zu stauen.

Was bleibt? Sehen wir den Fakten ins Auge, opfern wir dem Gott der Datensammler, Faktenjäger und Statistikfetischisten. Was bleibt, sind eine Menge Zahlen.

  • Reisedauer von Wellington bis Punta Arenas: 69 Tage
  • Gesamtlänge der Reise: 10858 nautische Meilen oder 20109 Kilometer.
    (Nimmt man die Flugstrecken Berlin-Wellington und Punta-Berlin dazu, dann haben wir tatsächlich einmal den Globus ganz umrundet.)
  • Mails verschickt: 338
  • Anzahl der Wetterberichte an Bord: 132
  • Sedimentkerne gezogen: 68
  • Verbrauch Toilettenpapier: 1309 Rollen
    davon Mannschaft: 594 Rollen
    Wissenschaftler: 715 Rollen
  • Südlichster Punkt: 74°57,5‘ S, 101°44,8‘ W
    erreicht am 1. März 2010, 02:00 Uhr Bordzeit
  • Wärmeflussmessungen: 29
  • Verbrauch Dieselkraftstoff: 1892 t MDO (Marine Diesel Oil)
    (das entspricht einem Verbrauch von rund 28 t pro Tag)
  • Wissenschaftliche Stationen: 157
    (auf denen diverse Geräte zum Einsatz kamen)
  • Gefiltertes Seewasser: 2500 Liter
  • Flüge zur Messung magnetischer Anomalien: 22196 Kilometer
  • Helikopterflugstunden: 184
  • Länge des seismischen Profils: 5032 Kilometer
  • Zahl der beobachteten Seevögel und Säuger: 1500
  • Fleischverzehr: ca. 250 g je Person und Tag
  • Mails erhalten: 316
  • Fotos in meinem Polarstern-Ordner: 1556
  • Cassetten mit Rohmaterial: 71

Es ist vorbei. Vorbei heißt: Sortieren. Sichten. Sedimentieren. Die Räume offen lassen, in denen sich Erinnerung bildet.

Es geht weiter. Noch gibt es unerzählte Geschichten, nicht aufgeschriebene Gedanken. Und, siehe oben, einige wenige unveröffentlichte Fotos. Dieser Blog geht weiter. Mindestens solange, bis unser Film ausgestrahlt wird. Oder das Eis geschmolzen ist.