dreizehn / Bekleidungsfragen

23:55 Bordzeit – eigentlich 22:55, aber wir haben schon wieder die Uhren vorgestellt.

In zehn Minuten ziehen wir auf dem Arbeitsdeck ein Schwerelot. Wollt ihr das nicht drehen? Anfragen wie diese treiben regelmäßig unseren
Adrenalinpegel in die Höhe. Denn drehen, wenn der antarktische Wettergott an den Reglern spielt, das ist eine ganz eigene Geschichte.

Erste Grundsatzfrage: Drinnen oder draußen? Und, daraus abgeleitet, die Frage aller Fragen: Was zieh ich an? Drinnen drehen, das heißt oft:
T-Shirt und Jeans, Turnschuhe, mehr nicht. Denn in manchen Labors und Werkstatträumen können auch schon mal subtropische Temperaturen herrschen. Neulich in der Bathymetrie zum Beispiel: 27 Grad. Plus, versteht sich. Ein ganzer Raum voller Rechner, das heizt ordentlich.

Draußen drehen? Das kann vieles heißen. Vor allem heißt es: Sei auf alles vorbereitet. Denn das Wetter in der Antarktis hat seine eigenen Gesetze. Gern schlägt es innerhalb von Minuten um. Erst eisklarer Blick auf die Schelfkante, dann fegt ein Sturm von Osten her und treibt Wolkenmassen vor die Mauer aus Eis. Sicht unter Null, so fühlt es sich jedenfalls an. Und Eisnadeln im Gesicht.

Also, ausgedehnter Griff in den Kleiderschrank. Lange Ski-Unterwäsche.
T-Shirt. Die dicken Polarsocken. Fleecepullover. Die straßenfegerfarbene Latzhose mit den Leuchtstreifen, denn es geht aufs Arbeitsdeck. Schal nicht vergessen. Polarjacke mit Pelzkapuze. Handschuhe. Die blauen. Vielleicht noch die Arbeitshandschuhe zum Drüberziehen. Wir drehen bei den Schlammologen. Könnte nass und dreckig werden. Arbeitsstiefel mit fester Kappe, innen gefüttert.

Verpacktes Team
Foto: Julia Lindow

Wieviel Wind erwarten wir? Eine Sechs, perhaps a little Seven, wie der Wetter-Max zu sagen pflegt. Also Mütze. Wolle? Oder lieber die leichte, aus Baumwolle? Ich hasse Wolle auf dem Kopf. Aber es hilft nichts. Die Mütze muss so gewählt sein, dass auf jeden Fall der Bauarbeiterhelm noch drüber passt – den haben wir gleich zu Anfang verliehen bekommen mit der Anweisung, unsere Namen drauf zu kleben. Helm ist Pflicht auf dem Arbeitsdeck. Leider keine Pflicht ist der Kinnriemen zum Helm. Wenige haben ihn. Die anderen sieht man bei acht Beaufort entweder immer mit einer Hand auf dem Helm oder in leichtem Trab dem fliegend übers Deck fliehenden Helm hinterherhechten. Wir zählen zu den anderen.

Dann Sturmhaube oder Fleecekopfschutz. Schützt das, was vom Gesicht noch frei ist. Dazu die Sonnenbrille. Bei Sturm besonders wichtig. Klingt absurd, aber man weiß sie zu schätzen, wenn einem der Wind einmal den feinen, fies nadelnden Eisregen in die Augen geblasen hat. Dann sieht man nämlich gar nichts mehr. Ist die Rampe im Heck offen? Wir zerren uns noch die Rettungsweste über alle anderen Kleidungsstücke.

Mittlerweile schaffen wir die Prozedur in rund sieben Minuten. Manchmal sind die Klamotten aus unerfindlichen Gründen über mehrere Decks verteilt. Dann dauert es ein wenig länger. Das Ganze ist eine
Gewinn-Verlust-Rechnung: An Umfang haben wir deutlich gewonnen. Leichte Einbußen verzeichnen wir bei der Bewegungsfreiheit.

Aber wir sind noch nicht fertig. Ist es unter null Grad? Haben wir Seegang, rechnen wir mit Gischtspritzern? Müssen die Geologen ihre Kästen und Rohre mit Wasserschläuchen abspritzen? Dann verpacken wir die Kamera in den Polarsack, denn Kälte kann sie genau so wenig ab wie feine, feuchtnebelförmige Wassertropfen. Der Polarsack ist ein schwarzes, gefüttertes Ganzkörperkondom, aus dem vorne nur noch, aber wirklich nur noch die Optik rausschaut. Wir haben uns hinten einen Ausgang mit Zugentlastung für Kopfhörer und Mikrophon gebastelt, damit ich nicht ständig in der Finsternis nach den Buchsen suchen muss.

Auch sonst ist der Polarsack anspruchsvoll im Handling. Wenn Guido die eingesackte Kamera auf seine straßenfegerjackengeschützte Schulter wuchtet, dann treffen zwei Kunstfasern aufeinander. Mit dem bekannten Ergebnis: Die Sache kommt ins Rutschen. Wir haben schon erwogen, einen Kamerabremsklotz auf seiner Schulter anzuflanschen.

Wer die feuchtsalzige Luft überhaupt nicht verträgt, das ist der Puschel. Die zottelige Windbremse über dem Mikrophon. Die hat schon so viel salzige Aerosole abgekriegt, dass die Zottelhaare verkleben, verfilzen und in Strähnen abstehen. Schöne Drehpausenidee: Flechten wir ihm doch Rastazöpfe. Aber hält der in diesem Zustand noch genügend Wind ab? Kann man Puschel waschen? Hat Florena auch Puschelshampoo? Oder in den Schonwaschgang mit dem Ding? Und was, wenn die Haare dann komplett zusammen kleben? Angeblich gibt es eine spezielle Puschelbürste. Wir phantasieren einen Anruf bei Produktions-Peter in Berlin: Fliegt doch bitte mal die Puschelbürste ein, so können wir nicht arbeiten.

Apropos Arbeiten. Spontan einen unserer Protagonisten verfolgen? Vom
Arbeitsdeck mit ihm ins Nasslabor gehen, zack zack durchs Schott und dann den Gang entlang? Ganz großes Kino … aber leider ohne Bilder. Denn es passiert, was alle Brillenträger dieser Welt kennen und lieben: Ist es draußen zu kalt, dann ist es drinnen zu warm. Die Optik legt einen feinen Schleier zwischen sich und die Welt und fordert ihre gewerkschaftlich garantierte Akklimatisierungspause. Diese Zeit müssen wir nutzen und uns so viel wie möglich vom Leib reißen. Mütze, Jacke, Handschuhe, Fleece – alles weg. Vergessen wir das und fangen an, mit dem Polarpelz in den inneren Gemächern der Polarstern zu drehen, dann sind wir innerhalb von Minuten schweißgebadet. Und die Kamera beschlägt schon wieder.

Besonders nett ist das, wenn die Termine, Orte und vor allem die unverhofften Gelegenheiten einander in rascher Folge abwechseln. Wale auf der Brücke beobachten? Innenoutfit. Arbeitsdeck, Kern ziehen? Außenpelz. Schnell Kerne einpacken im Nasslabor? Innen. Schelfeiskante achtern in der Abendsonne, geniale Bilder? Außen, Kälteschutz. Anziehen, ausziehen, Mütze suchen, in welchem Schrank waren noch mal die Handschuhe? Und zwischendurch, die Mahlzeit ruft, aus allem raus und schnell die zivile Kleidung finden. Denn in Messe 2 mit Arbeitsklamotten auftauchen, das gibt Mecker von Petra. Den vermeidet man besser.

Achtmal am Tag in die Umkleide. Das schaffen sie noch nicht mal in Hollywood. Nach solchen Arbeitstagen ist der Besuch in der bordeigenen Sauna ganz besonders schön: da müssen wir einmal überhaupt nicht übers Anziehen nachdenken. Drehklar in fünf Minuten? Aber immer …