dreißig / Überwältigungsarchitektur

25.3.2010

21:45 Bordzeit

Überwältigungsarchitektur.

Gut, dass Luxusyachten gemeinhin nicht eistauglich sind. Wären sie es, und ein russischer Neureicher vom Schlage Roman Abramowitschs würde zwischen antarktischen Eisbergfeldern und der Schelfeiskante der Pine Island Bay kreuzen: er würde wahrscheinlich sofort seine güldene Kreditkarte zücken und nach dem Architekten telefonieren lassen.

Das Eis baut. Kathedralen, Eingangsportale, überkuppelte Fußballstadien. Start- und Landebahnen, neben denen der Frankfurter Flughafen zum Ponyhof schrumpft. Sprungschanzen und Rutschbahnen. Kühn geschwungene Flächen mit Linien, die an Spannbetonbauten erinnern. Der Teepott von Warnemünde in Eis. Steil aufragende Kanten. Zerbrochene Riesenmotoren mit Kühlrippen, abgeschliffen vom Wellenschlag.

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Stadtlandschaften aus Tafeleisbergen. Einer neben dem anderen, so weit das Auge reicht. Enge Durchfahrten, zu beiden Seiten ragen schroff auseinandergerissene Flächen auf. Blau gezackte Gebirgszüge. Manchmal leuchtet am Horizont ein Kirchturm auf, spitz in den Himmel weisend. Wie kann der sich halten?

Als wir vor der Schelfeiskante lagen, 28. Februar 2010, Pine Island Bay, am Ausfluss des Gletschers, und die Sonne gegen Mittag den Seerauch weggeblasen hatte: da tat sich vor uns eine sanfte Rundung auf. Ein kilometerlang geschwungener Bogen. Als wolle das Eis die Wasserfläche einfassen. Die Eiskante: Ein hell funkelnder weißer Körper, das tiefe Dunkelblau begrenzend. Wohl 35 bis 40 Meter hoch, gegliedert durch Rundbögen, vom Wasser ausgeleckte Rundbögen. Mit treppenartig zurückspringenden Stufen, von der Sonne eingeschmolzen und ins Eis gefräst. Sakral. Der Petersplatz in Eis. Nur unvorstellbar viel größer. Mächtiger. Gewaltiger.

An unserem Maß gemessen, ist alles maßlos, was das Eis baut. Der diensthabende Nautiker auf der Brücke hat mal einen der Tafeleisberge vermessen, denen wir begegnet sind auf unserer Reise. Spaßeshalber. Sechs Kilometer breit, und am Punkt seiner höchsten Erhebung rund 90 Meter hoch. Über Wasser. Ein einziger Eisberg. Und der sichtbare Überwasserkörper eines Eisbergs macht nur etwa ein Fünftel bis ein Siebtel der Masse aus. Mag sich jeder selbst ausrechnen, wie tief der Koloss unter Wasser reicht und ragt. Wieviel Wasser in ihm gebunden ist, wieviel Erinnerung auch: an wechselnde Klimabedingungen, an Wetterumschwünge. Wie langsam und mühselig er seine Kubikkilometer fortbewegt ü̈ber die flachen Gewässer des Kontinentalschelfs. Die Flut hebt ihn an, die Ebbe lässt ihn aufsetzen. Immer wieder aufgehalten von Bodenwellen und Erhebungen, schiebt er sich vorwärts, kratzt, schabt, schleift, rutscht und drückt berstend in die Tiefsee.

Auch das Wort ‚Gletscherʻ klingt niedlich hier. Dreißig, fünfzig Kilometer breit schiebt das ins Meer, was sie hier Gletscher nennen. Ein mächtiger Eisstrom fließt vom Festland herunter, drückt das Eis aufʻs Wasser, bis es in großen Tafeln abbricht. Drei Kilometer pro Jahr, hier in der Pine Island Bay. Wo die Schmelzraten besonders hoch sind zur Zeit. Die höchsten in der ganzen Antarktis. Und allein in der Bay reiht sich einer dieser Eisströme an den nächsten: Pine Island-Gletscher und Thwaites-Gletscher und Smith-Gletscher und Kohler-Gletscher …

Die Dimensionen: Unvorstellbar für ein Menschenbewußtsein. Im Raum wie in der Zeit. Jahrtausendelang hat es geschneit in der Antarktis. Schichtweise türmten sich die Flocken auf. Meter um Meter fallender Schnee verpresste die darunter liegenden Lagen zu Eis. Immer mehr, immer höher, bis die ganze Masse ins Rutschen geriet und nach vorne schob. Zum Wasser hin, wo der Eiskörper aufschwimmt und abbricht und bröselt, immer wieder das Nachschiebende als Tafeleisberge ins Meer entlässt. Kilometerbreite, hunderte von Metern hohe, massige Körper, die Jahrtausende von antarktischen Niederschlägen verdichten zu einem Eisberg. Der auf die Reise geht ins Wasser, wo er sich Flocke für Flocke wieder auflösen wird.

Die Dimension ist das eigentlich Unbegreifliche. Mit dem Hubschrauber hochsteigen auf tausend Fuß, und bis zum Horizont ist in alle Richtungen nur Eis zu sehen. Und zu wissen: Hinter dem Horizont geht es weiter, genau so: Eisfläche und Eisschollen, Tafeleisberge und Eisströme … Jedes Jahr wächst das Meereis während des antarktischen Winters rund um den Kontinent auf 20 Millionen Quadratkilometer an, und jedes Jahr im Januar, während des antarktischen Hochsommers, ist es auf rund 2 Millionen Quadratkilometer zusammengeschmolzen. 20 Millionen Quadratkilometer – jeden Winter wächst diese Eislandschaft auf die doppelte Größe Europas.

Gigantisch, maßlos, unbegreiflich – die üblichen Formulierungen der begriffslos staunenden Überwältigungsrhetorik drängen sich auf. Der kleine Mensch vor diesen gewaltigen Landschaften. Geworfen in die leere Endlosigkeit der Eiswüsten. Erschüttert von der Gleichgültigkeit der sich immer wieder erneuernden Natur. Aber auch das ist schon wieder aufgeladen von Projektionen, die sich am menschlichen Maß ausrichten. Gleichgültigkeit? Die würde ja irgendein Wollen, würde Absicht, Zweck, Interesse voraussetzen. Würde bedeuten, dass sich irgendetwas ausdrückt in diesen Eisformationen. Aber diese Landschaften sind zweckfrei. Interesselos. Ein interesseloses Spiel der Kräfte.

Interessant, wie beim Schauen und Betrachten das Begriffsrepertoire des Idealismus auftaucht. Wie sich das Vokabular der Empfindsamkeit ins Bewußtsein drängt. Anmut und Würde. Erhabenheit. Ergriffen sein. Wann habe ich das zum letzten Mal gesagt, gedacht, geschrieben?

Es war ergreifend, auf dem Kay Peak zu stehen, 75° Süd, 110° West, 709 Meter hoch, Vorgebirge von Mount Murphy: Und nichts zu hören. Absolut nichts. Keinen Laut, keinen Flügelschlag, keinen Windhauch, kein Rauschen – nur absolute Stille. Unterbrochen nur vom eigenen Atem. Und vom Eigengeräusch der Kamera.

Es war ergreifend, sich nachts im Polarstrampler aufs Peildeck zu legen, bei klirrender Kälte, wolkenlosem Himmel und klarer trockener Luft. Um sich in den Sternen zu verlieren. Kein Lichtsmog, keine Störstrahlung. Nur Myriaden von Sternen, funkelnd auf schwarzem Samt – und das leise Blubbern der Maschine.

Es war ergreifend, nachts auf der Brücke zu stehen und in die Finsternis zu starren, die undurchdringliche Schwärze, wissend: Hier ist nichts und niemand, auf Tausende von Seemeilen einfach nichts, nur 5000 Meter Wasser unter uns – und dieses Staubkörnchen-im-Weltall-Gefühl zu fühlen und auszuhalten.

Bevor ich mich jetzt von meiner eigenen Ergriffenheit ergreifen lasse: Antarktika ermöglicht eine Erfahrung, die in dieser extremen Form sonst kaum irgendwo möglich ist auf der Erde. Die Erfahrung einer Natur an und für sich. So wenig von Menschen gestaltet, von Menschen beeinflusst, von Menschen unterworfen wie kaum ein anderer Fleck auf dem Globus.

Das ist beeindruckend. Das ist überwä̈ltigend. Das ist ergreifend.

Zum Glück kann man das nicht kaufen.